Medizinische Situation in Gaza:"Die Lage ist katastrophal"
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Eine starke Explosion, dann stürzte die Decke herunter - während einer Operation. Christian Katzer von Ärzte ohne Grenzen ist entsetzt über den Einschlag bei der Klinik in Gaza.
Zerstörung im Al-Ahli-Arab-Krankenhaus in Gaza
Quelle: Reuters
Die humanitäre Lage im von der militant islamistischen Hamas regierten Gazastreifen wird zunehmend schlechter - gleichzeitig wird auch die Koordination medizinischer Versorgung aus dem Ausland schwieriger.
"Ärzte ohne Grenzen" hat zwar nach wie vor Mitarbeitende vor Ort, doch der Kontakt der Organisation in die Region ist lückenhaft geworden, sagt der Geschäftsführer der deutschen Sektion, Christian Katzer, im Gespräch mit ZDFheute.
ZDFheute: Herr Katzer, wie bekommen Sie Informationen aus dem Gaza-Streifen und welches Bild der aktuellen Lage können Sie uns geben?
Christian Katzer: Zunächst muss man ganz klar sagen, dass die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" entsetzt ist über die Berichte über einen Angriff auf das Krankenhaus in Gaza-Stadt, wo ja in dem Moment Patientinnen behandelt wurden, wo Vertriebene Schutz gesucht haben.
Christian Katzer (50) ist Geschäftsführer der deutschen Sektion von "Ärzte ohne Grenzen". Er hat Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen im Gazastreifen. Dort gab es am Dienstag eine Explosion an einem Krankenhaus, möglicherweise mit vielen Toten. Hamas und Israel beschuldigen sich gegenseitig. ZDFheute hat Indizien zusammen getragen.
ZDFheute: Wie haben Sie davon erfahren?
Katzer: Wir haben mehr als 300 Mitarbeitende in Gaza und sind mit vielen von ihnen im direkten Kontakt per Whatsapp, Telefon - immer dann, wenn sie wieder mal Strom finden fürs Telefon. Also die Kommunikation ist auch für uns nicht so einfach.
Wir haben letztendlich aufgehört, unsere Arbeit zu koordinieren, wir haben allen Mitarbeitern gesagt: "Macht das, was ihr für richtig empfindet. Kümmert Euch um Eure Familien, wenn es notwendig ist. Wenn Ihr weiterarbeiten könnt, dann gerne, um weiterhin aktiv zu bleiben." Es ist nicht mehr ganz so koordiniert, wie es eigentlich für uns üblich ist.
Im Gazastreifen sind bei einer Explosion an einem Krankenhaus viele Menschen gestorben. Die Hamas hat die Todeszahlen wohl überhöht. Woher kam die Rakete?
von Nils Metzger und Julia Klaus
FAQ
ZDFheute: Was berichten Ihre Mitarbeitenden?
Katzer: Prinzipiell ist die Situation in Gaza extrem schwierig. Die Lage im Gazastreifen war ja auch schon vor der Eskalation und dem Angriff der Hamas am 7. Oktober auf Israel mit den vielen Toten wirklich schwierig. Jetzt nach dem Angriff der Hamas und der vollständigen Blockade des Gazastreifens durch Israel ist die Lage katastrophal.
ZDFheute: Wie ist die Situation für die Mitarbeitenden von "Ärzte ohne Grenzen"?
Katzer: Wir mussten unser internationales Personal in Richtung der ägyptischen Grenze evakuieren, einfach aus Sicherheitsgründen. Aufgrund der Sicherheitslage haben wir aufgehört, unsere Arbeit zu koordinieren und alle unsere 300 Mitarbeitenden sozusagen von der Verantwortung entbunden.
Natürlich gibt es weiterhin Krankenhäuser, die versuchen, medizinische Hilfe zu leisten. Aber das wird von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde schwieriger.
Katzer: Das ist aus vielen Gründen oft nicht möglich. Zum einen ist für Patienten, die verlegt werden sollten, der Transport nicht sicher. Es gibt keine Sicherheitsgarantie für Krankenwagen, so dass eine Verlegung oft schwierig ist. Zum anderen ist es so, dass die meisten Krankenhäuser im Norden sind, es gibt nicht so viele Kapazitäten im südlichen Teil des Gazastreifens.
Viele von den Kolleginnen und Kollegen berichten auch, dass sie in ihren Autos schlafen, im Freien schlafen, weil es gar keinen richtigen Platz gibt, wo sie hingehen können. Sie alle kennen viele Krisengebiete. Aber das erscheint mir jetzt unglaublich, unglaublich extrem.
"Die Arbeit in Krankenhäusern ist kaum möglich", so François De Keersmaeker, Direktor "Ärzte der Welt", zur humanitären Hilfe in Gaza. "Heute kämpft jeder um sein Leben."19.10.2023 | 5:00 min
ZDFheute: Was fordern Sie?
Katzer: In jedem bewaffneten Konflikt haben Krankenhäuser und medizinisches Personal eigentlich einen besonderen Schutz. Krankenhäuser und Krankenwagen dürfen nicht für militärische Zwecke genutzt werden und daher auch nicht angegriffen werden.
Und auf diesen Schutz verlassen wir uns, darauf verlassen sich viele Menschen, das sehen wir auch in Gaza, dass viele in den Krankenhäusern Schutz suchen, weil sie sich in ihren Wohnungen nicht mehr sicher fühlen.
Diesen Schutz nach dem internationalen Völkerrecht fordern wir ganz stark ein, von allen am Konflikt Beteiligten. Was extrem wichtig wäre, ist diese vollständige Abriegelung des Gazastreifens so weit gelockert wird, dass humanitäre Hilfe in den Gazastreifen gelangen kann, dass wir medizinische Versorgung für Menschen, die von diesem Konflikt betroffen sind, leisten können.
ZDFheute: Wie geht es jetzt weiter für die Mitarbeitenden von "Ärzte ohne Grenzen"?
Katzer: Jeder entscheidet jetzt sozusagen für sich. Aber niemand kommt raus aus dem Gaza-Streifen, auch auch die internationalen Mitarbeitenden, die den Gazastreifen gern verlassen würden, kommen nicht raus.
Wir sind mit vielen Kolleginnen und Kollegen in Kontakt, einige sind mit ihren Familien in den Süden geflohen, viele versorgen weiter Patienten. Es gibt noch einige Materialien, es geht aber gerade stark zu Ende.
Es gibt keine richtigen Schmerzmittel mehr für die Menschen. Es ist unvorstellbar, unter welchen Bedingungen da Gesundheitsversorgung geleistet wird, es ist inakzeptabel.
ZDFheute: Sie sagen, Sie koordinieren nicht mehr. Was aber können Sie jetzt noch tun von Berlin oder auch von Genf aus, wo Sie gerade sind?
Katzer: Wir haben Kolleginnen und Kollegen, die in Beirut sind, in Israel, in den Nachbarstaaten oder hier in Europa, die in direktem Kontakt mit ihnen stehen. Zum Teil geht es wirklich einfach nur darum, wie wir weiter unterstützen können. Können wir irgendetwas anbieten, auch wenn unsere eigenen Ressourcen natürlich total limitiert sind und wir keinen sicheren Platz haben für die Menschen im Gaza-Streifen.
Zum anderen geht es natürlich dann doch auch darum, dass, wenn wir irgendwie von außen medizinisch unterstützen können, sei es mit einer Analyse, mit einem Ratschlag oder Fachgespräch - dann versuchen wir das ganz stark.
Aber die Stromversorgung ist nicht mehr da. Treibstoff wird natürlich priorisiert, um noch Operationen durchführen und die chirurgischen Instrumente bedienen zu können. Parallel wird natürlich versucht, Telefone aufzuladen. Kommunikation ist extrem wichtig. Die Menschen untereinander versuchen, sich zu vernetzen. Die Lage ist schlimm.
Das Interview führte Britta Spiekermann aus dem ZDF-Hauptstadtstudio.
Durch den Hamas-Überfall auf Israel ist der Nahost-Konflikt eskaliert - das israelische Militär reagiert mit Militäroperationen. Aktuelle News und Hintergründe im Liveblog.