Gaza-Krieg: Israel will "Abschreckung und Vergeltung"

    Interview

    Wie geht der Gaza-Krieg weiter?:Israel will "Abschreckung und Vergeltung"

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    Israel setzt die Offensive im Gazastreifen fort. Der Nahost-Experte Daniel Gerlach warnt: Seine Ziele könne Israel nur unter Inkaufnahme Tausender weiterer ziviler Opfer erreichen.

    ZDFheute: Die Waffenruhe ist vorbei, Israel setzt nun seine Offensive im Süden des Gazastreifens fort. Wie geht der Krieg weiter?
    Daniel Gerlach: Heute sieht es so aus, als seien weitere Verhandlungen zur Freilassung von Geiseln der Hamas in Gaza ausgesetzt. Damit ist auch die riskante - aber dank der Unterhändler einigermaßen erfolgreiche - Doppelstrategie aus maximalem militärischem Druck und geheimdienstlichen Verhandlungen vorerst beendet. Priorität der israelischen Führung scheint nun die Tötung der Hamas-Truppen zu sein, womöglich einschließlich ihrer Familien.
    Nimmt man dieses rhetorisch immer wieder betonte Kriegsziel ernst, muss man sich die Dimensionen klarmachen: Laut Schätzungen verfügte die Hamas in Gaza vor Beginn der Offensive über bis zu 30.000 Mann. Nach den bisherigen Erfahrungen sterben bei jedem Schlag mehrere Zivilisten, auch wenn man, wie die israelische Führung beteuert, diese schonen wollte. Man kann sich also buchstäblich ausrechnen, was das bedeutet. Abgesehen davon:

    Mit jedem Tag des Krieges wird es schwieriger, den Gazastreifen politisch zu ordnen. Das ist ein Dilemma.

    Denn Israels Führung sagt, dass es erst Frieden geben kann, wenn die Hamas nicht mehr existiert. Andererseits ist die flächendeckende Zerstörung ein ebenso großes Hindernis für eine zukünftige Ordnung.
    ZDFheute: Wie unterscheidet sich das aktuelle militärische Vorgehen Israels von früheren Konflikten?
    Gerlach: In den ersten Wochen der Angriffe sind höchstwahrscheinlich bereits mehr Palästinenser getötet worden als im großen Nahostkrieg von 1948, der immerhin fast 10 Monate gedauert hat. Neben dem Kampf gegen die Hamas und andere Terrorgruppen ging es Israel in den letzten Wochen auch um Abschreckung und Vergeltung. Darum, die Bevölkerung hart zu treffen, damit sie diesen Gruppen ihre Unterstützung entzieht. Eine entsprechende israelische Militärdoktrin ist als "Dahieh-Doktrin" bekannt.

    Nach dem für Israel schockierenden 7. Oktober betrachtet man noch stärker als bei früheren Konflikten die palästinensische Bevölkerung in Gaza als mitverantwortlich für den Überfall.

    Daniel Gerlach, Nahost-Experte

    Die Bilder von palästinensischen Zivilisten, die in der zweiten Angriffswelle nach Israel eindrangen und dort Grausamkeiten verübten, haben israelische Politiker und Kommandeure in dieser Ansicht bestärkt. Hinzu kommt die mit fortschreitender Technologie wachsende Zerstörungskraft der IDF. Das israelische Magazin "+972" berichtete in dieser Woche vom Einsatz künstlicher Intelligenz, die in hoher Geschwindigkeit Ziele für Luftangriffe produziert. Die Vorgaben, wie viele zivile Opfer Angriffe haben dürfen, sollen deutlich gelockert worden sein. Wenn sozusagen die Maschine das Töten plant, hat der Mensch scheinbar ein geringeres moralisches Dilemma.
    Angriff auf Israel (Karte Israel, Gazastreifen etc.)

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    ZDFheute: Während vergangener Konflikte haben israelische und palästinensische Sicherheitsbehörden im Westjordanland trotzdem weiter Kontakte unterhalten. Gibt es diesen Austausch auch jetzt noch?
    Gerlach: Ich vermute schon. Die israelischen Nachrichtendienste wissen sehr genau, wie explosiv die Lage im Westjordanland ist und haben - im Unterschied zu vielen Siedlern und extremistischen Politikern - überhaupt kein Interesse daran, dass dort die Lage eskaliert. Die politischen Beziehungen zwischen Israel und der Autonomiebehörde sind auf einem Tiefpunkt, aber ich denke, dass es bei den Geheimdienstlern auch eine Allianz der klugen Technokraten gibt, die versuchen, den Wahnsinn einzuhegen. Extremistische und bewaffnete Palästinensergruppen haben Zulauf und die Siedlermilizen heizen die Lage an. Sie wollen die Tatsache ausnutzen, dass die Stimmung in Israel nach dem 7.10. so antipalästinensisch ist.

    Ich halte die Lage für sehr ernst. Wenn es im Westjordanland und um Jerusalem zum Krieg kommt, halte ich es für wahrscheinlich, dass Hisbollah und andere externe Akteure eingreifen.

    Daniel Gerlach, Nahost-Experte

    ZDFheute: Kann Fatah gerade davon profitieren, dass die Hamas militärisch so unter Druck steht?
    Gerlach: Für die Fatah ist es schwer, in irgendeiner Form Kapital aus der Situation zu schlagen. Trotz der katastrophalen Auswirkungen ihres Angriffs genießt Hamas Sympathien im Westjordanland. Die meisten Menschen dort betrachten die jetzt freigekommenen Gefangenen aus israelischer Haft wohl als eine Folge des 7. Oktobers. Besonders für den politischen Arm der Hamas ist das eine Möglichkeit, sein Profil im Westjordanland zu stärken, während er in Gaza seiner Zerstörung entgegensieht. Und grundsätzlich hat auch die Hamas ein Interesse daran, dass sich der bewaffnete Kampf dorthin ausdehnt. Sie ruft ja dazu auch auf.
    Im Gegensatz dazu gilt: Mit Mahmud Abbas an der Spitze wirkt die von der Fatah geführte Autonomiebehörde (PA) wie handlungsunfähig. Viel mehr als protestieren und offiziell die Sicherheitskooperation mit Israel aufkündigen, hat sie in den Augen der Öffentlichkeit nicht getan. Die wenigen Fatah-Personen mit breitem Rückhalt in der Bevölkerung, Marwan Barghuthi etwa, sitzen in israelischen Gefängnissen.

    Standbild: Kulturzeit-Gespräch mit Daniel Gerlach

    ... ist Chefredakteur des Nahost-Fachmagazins "zenith" und Direktor der Denkfabrik Candid Foundation. Gerlach studierte Geschichte und Orientalistik in Hamburg und Paris.

    ZDFheute: Werden Fatah und PA in die Verhandlungen in Doha einbezogen?
    Gerlach: Was die Geiseln betrifft, nein - soweit ich weiß. Die Europäer und ein Stück weit auch die Amerikaner haben wohl versucht, sie mit an Bord zu holen. PA-Ministerpräsident Mohammad Schtajjeh wiederum hat schon ganz am Anfang klargestellt, dass man nicht im Schatten der israelischen Panzer die Kontrolle in Gaza übernehmen werde. Nun heißt es, man wäre bereit für Verantwortung, aber nur, wenn es einen Plan für Gaza und die Westbank gebe. Das wird Israel derzeit nicht wollen. Besonders Benjamin Netanjahu wollte die beiden Gebiete bisher so weit wie möglich voneinander trennen und damit die Zwei-Staaten-Lösung in weitere Ferne rücken. Solange es die Hamas gab, musste man sich darum auch nicht kümmern. Beide Gebiete nun unter eine Verwaltung zu stellen, würde diesem Programm zuwiderlaufen.
    Mohammad Schtajjeh
    Der palästinensische Ministerpräsident Schtajjeh fordert im ZDF eine "umfassende Lösung für Westjordanland und Gazastreifen". Es geht auch um eine Zeit nach der Hamas-Herrschaft.23.10.2023 | 7:19 min
    ZDFheute: Welche politische Lösung gibt es dann für Gaza?
    Gerlach: Eine Möglichkeit, die aber nur funktioniert, wenn der Gazastreifen nicht weiter in Schutt und Asche gelegt wird, wäre eine multinationale arabische Streitmacht, die vorübergehend polizeiliche und militärische Kontrolle übernimmt. Parallel müsste man aus den respektierten, einflussreichen Familien des Gazastreifens eine Art Ältestenrat bilden, der einen zivilen Gouverneur bestimmt. So könnte eine arabisch-palästinensische Hybrid-Verwaltung für die nächsten Jahre entstehen. Israel müsste entsprechende weitreichende Garantien geben, darunter freien Zugang zu Gaza.
    Ich denke, wenn man schnell handelt, könnte man einige arabische Staaten noch davon überzeugen. Hier stellt sich allerdings das Problem vom Anfang unseres Gesprächs: Könnte man die Hamas-Führung in Gaza überzeugen, zugunsten einer arabischen Streitmacht die Waffen niederzulegen? Oder muss man sie erst vollständig militärisch außer Gefecht setzen? Letzteres wäre wohl mit noch größerer Zerstörung des Gazastreifens verbunden. Und daran, die Herrschaft über ein Ruinenfeld oder einen großen Friedhof zu übernehmen, haben die Araber sicher keinerlei Interesse.
    Die Fragen stellte Nils Metzger.

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