Berliner Jüdin: "Frage der Zeit, bis ich Deutschland verlasse"
Interview
Jüdin in Berlin:"Frage der Zeit, bis ich Deutschland verlasse"
|
Juden fühlen sich in Deutschland nicht mehr sicher. Vieles hat sich geändert, sagt Sana Kisilis. Sie fühlt sich wie eine "laufende Zielscheibe", überlegt, das Land zu verlassen.
Viele Jüdinnen und Juden in Deutschland haben Angst - Davidstern an Kölner Synagoge
Quelle: picture alliance / Panama Pictures
Es ist derzeit schwer, deutsche Juden vor die Kamera zu bekommen. Viele haben Angst, erkannt und verfolgt zu werden. Sana Kisilis hat auch Furcht, will aber bewusst Gesicht zeigen in diesen Tagen, in denen eine Welle des Antisemitismus über das Land schwappt. Die 30-jährige Berlinerin erzählt, was sich für sie und die meisten Juden in Deutschland seit dem 7. Oktober verändert hat.
Quelle: ZDF
... ist 30 Jahre alt, wurde in der Ukraine geboren und wuchs in Dortmund auf. Sie ist Projektkoordinatorin in einer NGO. Von 2013 bis 2016 lebte sie in Israel und leistete dort auch Militärdienst.
ZDFheute: Was hat sich für Sie persönlich am 7. Oktober verändert?
Sana Kisilis: Der 7. Oktober wird als Zäsur innerhalb der jüdischen Community empfunden. Auch wenn man selbst nicht in Israel ist, hat man dort viele Freunde und Familie. Die Vorfälle tangieren einen auch hier in Deutschland - emotional, aber auch physisch. Was sich verändert hat, ist eine allgemeine Destabilisierung des Sicherheitsgefühls, weil man sich als eine laufende Zielscheibe wahrnimmt.
ZDFheute: Was hat sich in ihrem Alltag geändert?
Kisilis: Ich war grundsätzlich nie eine ängstliche Person, das wissen alle. Ich habe nie Angst gehabt, auf Hebräisch zu antworten, wenn mich eine israelische Freundin angerufen hat. Das würde ich heute nicht tun, ich würde mich fünfmal umdrehen.
Es war selbstverständlich, in einen koscheren Laden zu gehen, es war selbstverständlich am Freitagabend in die Synagoge zu gehen. Nach dem 7. Oktober habe ich mich gefragt, ob ich in einen koscheren Laden vor Sabbat gehen kann. Das ist so, als ob sie sich überlegen, ob es für sie sicher ist, zum Rewe zu gehen.
Angriff auf Israel (Karte Israel, Gazastreifen etc.)
ZDFheute Infografik
Ein Klick für den Datenschutz
Für die Darstellung von ZDFheute Infografiken nutzen wir die Software von Datawrapper. Erst wenn Sie hier klicken, werden die Grafiken nachgeladen. Ihre IP-Adresse wird dabei an externe Server von Datawrapper übertragen. Über den Datenschutz von Datawrapper können Sie sich auf der Seite des Anbieters informieren. Um Ihre künftigen Besuche zu erleichtern, speichern wir Ihre Zustimmung in den Datenschutzeinstellungen. Ihre Zustimmung können Sie im Bereich „Meine News“ jederzeit widerrufen.
Kisilis: Angst ist grundsätzlich kein guter Berater. Ich glaube, ich würde mir selber keinen Gefallen damit tun, wenn ich permanent Angst hätte. Das hält man nicht aus. Ich bin auf jeden Fall viel vorsichtiger. Vorsicht ist das richtige und passendere Wort.
ZDFheute: Ist Ihnen persönlich etwas passiert?
Kisilis: Ich bin nicht sicher, ob man das als antisemitischen Vorfall werten kann: Ich habe auch eine Mesusa an meiner Tür, und ich habe schon zum dritten Mal beobachtet, dass mein Namensschild an der Türklingel abgerissen war. Das geschieht bei keinem anderen Nachbarn. Natürlich ist es kein kausaler Zusammenhang. Aber man weiß ja nie, wer im Haus ist und diese Mesusa sieht. Wer sich auskennt, kann identifizieren, dass es sich um einen jüdischen Haushalt handelt.
Im dritten Quartal diesen Jahres wurden deutschlandweit 540 antisemitisch motivierte Straftaten registriert. Die Straftaten häuften sich bereits vor dem Hamas-Angriff auf Israel. Ein grundlegendes Problem in Deutschland?06.11.2023 | 1:49 min
ZDFheute: Was empfinden Sie, wenn Sie Pro-Palästina-Demos sehen?
Kisilis: Es ist schockierend und es ist schwer zu erklären, warum diese Demos so problematisch sind. Es ist absolut verständlich, dass Menschen, die sich eher mit dem palästinensischen Narrativ auseinandersetzen und eben mehr Empathie für das palästinensische Narrativ empfinden, das Bedürfnis haben, auf die Straßen zu gehen oder diese Empathie zu äußern.
Dass "Tod den Juden" skandiert wird, dass der Terror der Hamas in keinem Satz erwähnt wird, dass die Fakten verdreht werden - es ist wirklich schlimm.
Die jüdische Schriftstellerin Deborah Feldman kritisiert, dass in Deutschland nur Juden angehört werden, wenn sie die Meinung der israelischen Regierung teilen.02.11.2023 | 1:38 min
ZDFheute: Kann man als Jude weiter in Deutschland leben?
Kisilis: Das ist eine Frage, die muss jeder für sich selbst beantworten. Es gibt sehr viele Jüdinnen und Juden, die Deutschland als ihre Heimat ansehen und die das Weiterleben in Deutschland als ein Widerstandssymbol sehen. Sie sagen: "Wenn ich gehe, dann haben die Nazis geschafft, was sie wollten. Das können wir nicht zulassen." Das kann ich rational verstehen. Für mich persönlich wäre das nicht Grund genug.
Ich bin für den Moment noch hier, aufgrund von persönlichen Gründen, familiären Gründen. Aber sobald ich merke, dass es nicht mehr zumutbar ist, dann ist es für mich definitiv nicht Grund genug zu sagen, dass ich den Antisemiten damit einen Gefallen tue.
So wie die Lage jetzt ist, bin ich nicht sehr optimistisch. Für mich ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis ich Deutschland verlasse.
Mehr zum Thema sehen Sie bei "berlin direkt" am Sonntag, 12. November 2023, um 19.10 Uhr im ZDF und in der ZDF Mediathek.
Das Interview führte Lars Bohnsack, Korrespondent im ZDF-Hauptstadtstudio
Durch den Hamas-Überfall auf Israel ist der Nahost-Konflikt eskaliert - das israelische Militär reagiert mit Militäroperationen. Aktuelle News und Hintergründe im Liveblog.