Der Ukraine-Krieg 2024: Bilanz eines verlustreichen Jahres
Das Kriegsjahr in der Ukraine:Wie Russland 2024 die Initiative zurückgewann
von Christian Mölling, András Rácz
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Das Kriegsjahr 2024 in der Ukraine: Russland diktierte weitgehend das Kriegsgeschehen. Kiew gelang mit dem Vorstoß nach Kursk ein Gegenschlag. Ein Kriegsende ist nicht in Sicht.
Die Ukraine hat 2024 die Mobilisierung neuer Soldaten verstärkt, doch es mangelt an schwerer Bewaffnung.
Quelle: dpa
Der Jahresbeginn war geprägt von der vorherrschenden, kritischen Munitionsknappheit in der Ukraine. Diese entstand aufgrund der verzögerten Einigung in den USA über die Fortsetzung der Militärhilfe für 2024.
Infolgedessen fiel die befestigte ostukrainische Stadt Awdijiwka Mitte Februar 2024. So rückte Russland seit Februar langsam, aber stetig in diese Richtung vor, auch begünstigt durch das flache und kaum bewohnte Gelände. Ende Dezember erreichte Russland von Südosten her die Festungsstadt Pokrowsk und kesselt sie nun von Süden und auch von Westen her ein.
Die russische Armee rückt im Donbass vor und droht, Pokrowsk einzukreisen.18.12.2024 | 2:19 min
Im Osten der Ukraine toben weiter heftige Kämpfe
Im südlichen Teil des Donbass fiel im Oktober die befestigte Stadt Wuhledar, was zu einem allmählichen Zerfall der ukrainischen Verteidigungsanlagen in diesem Teil der Frontlinie führte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Ukraine die Kontrolle über alle südlich von Pokrowsk gelegenen Gebiete in höchstens einigen Monaten, möglicherweise sogar schon früher, verlieren wird.
Mitte Mai griff Russland plötzlich den nördlichen Teil der Region Charkiw an. Das Ziel war es wohl, die ukrainischen Streitkräfte von der Donbass-Front abzulenken und so weitere russische Vorstöße dort zu ermöglichen.
"Russland kommt voran, aber sehr langsam", sagt Militärexperte Nico Lange.19.12.2024 | 19:04 min
Der Ukraine gelang es jedoch, den russischen Vorstoß zu stabilisieren und zu isolieren. Zwar hält Russland immer noch Teile von Wowtschansk und einige zerstörte Dörfer nördlich von Lyptsy, aber es ist äußerst unwahrscheinlich, dass es hier noch weiter vorrücken kann.
Die ukrainischen Verteidigungsanlagen im Donbass waren weitgehend stabil. Trotz der Überlegenheit Russlands in Bezug auf Artilleriemunition und Personal ist Tschasiw Jar auch nach mehr als 1,5 Jahren Stadtkampf noch nicht verloren.
Quelle: DGAP
... leitet das Programm "Europas Zukunft" für die Bertelsmann Stiftung in Berlin. Er forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement. Für ZDFheute analysiert er regelmäßig die militärischen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt.
Quelle: DGAP
... ist Associate Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Er forscht und publiziert zu Streitkräften in Osteuropa und Russland und hybrider Kriegsführung.
Ukrainische Mobilisierung mit Verzögerung
Um den gravierenden Personalmangel zu beheben, hat die Ukraine im Frühjahr endlich die lange vorbereitete Änderung des Mobilisierungsgesetzes verabschiedet.
Nach den anfänglichen Schwierigkeiten funktioniert die Mobilisierung immer besser, aber den meisten neu aufgestellten ukrainischen Einheiten fehlt es an der für Kampfeinsätze erforderlichen schweren Bewaffnung.
Auch die Ausbildung der Soldaten ist viel schwächer als sie sein sollte, und die ukrainischen Streitkräfte leiden auch unter Mängeln auf den höheren Führungsebenen.
Im Osten des Landes gerät die Ukraine an einigen Frontabschnitten weiter unter Druck. Als Reaktion plant die Ukraine nun die Mobilisierung von 160.000 weiteren Soldaten.30.10.2024 | 1:34 min
Schleppende westliche Hilfe
Durch die westliche Militärhilfe konnte das Problem des Munitionsmangels in der Ukraine gelöst werden. Die Lage verbessert sich auch im Bereich der Artillerie und der leichteren Panzersysteme. Bei den schwereren Systemen konnten die während der gescheiterten Gegenoffensive 2023 erlittenen Verluste jedoch immer noch nicht wieder aufgefüllt werden.
Im Herbst erhielt die Ukraine ihre ersten F-16-Kampfjets, und weitere sollen 2025 folgen. Bislang werden sie vor allem gegen russische Marschflugkörper und Drohnen eingesetzt, nicht aber gegen die russische Luftwaffe.
Die Militärhilfe hat ausgereicht, um die Ukraine im Kampf zu halten. Aber um besetzte Gebiete zu befreien, braucht es Offensivkapazitäten - und deren Aufbau ist langwierig, wenn überhaupt möglich.
Die scheidende Biden-Administration hat beschlossen, der Ukraine noch vor dem Amtsantritt von Donald Trump am 20. Januar die größtmögliche militärische und finanzielle Hilfe zukommen zu lassen. So haben die USA seit November Waffen, Munition, Ausrüstung und auch andere Formen der Hilfe im Wert von mehr als zehn Milliarden US-Dollar bereitgestellt. Dieser Trend wird sich auch in der ersten Januarhälfte fortsetzen.
Auch wenn sich die Bereitstellung zusätzlicher Hilfe in den ersten Monaten der Trump-Administration verlangsamen wird, muss die Ukraine also nicht unter ähnlichen Engpässen leiden wie Anfang 2024 - zumindest nicht in der ersten Hälfte des Jahres 2025.
Systematische Zerstörung ziviler Infrastruktur
Im Herbst und Winter intensivierte Russland seine Luft- und Raketenangriffe auf die Energieinfrastruktur der Ukraine. Die meisten Wärmekraftwerke des Landes sind zerstört oder schwer beschädigt. Auch die Stromerzeugungskapazität der Wasserkraftwerke wurde erheblich geschwächt.
Russland setzt seine gezielten Angriffe auf die Energieinfrastruktur der Ukraine fort. Nur noch ein Drittel der Energieversorgung ist intakt.27.12.2024 | 1:28 min
Überraschungsangriff auf Kursk - Schlag für Putins Prestige
Im August startete die Ukraine einen Überraschungsangriff auf die russische Region Kursk und eroberte eine Fläche von etwa 1.000 Quadratkilometern. Der Geländegewinn ist an sich nicht allzu bedeutend, doch die teilweise Besetzung des russischen Kerngebiets war ein schwerer Schlag für das Prestige des Putin-Regimes. Gleichzeitig stärkte der Vorstoß die Moral der ukrainischen Truppen.
Putin hat die russischen Streitkräfte angewiesen, die Region Kursk noch vor der Amtseinführung von Donald Trump zu räumen. Doch dies ist aufgrund der robusten Verteidigung der ukrainischen Streitkräfte dort höchst unwahrscheinlich.
Sollten also relativ bald Verhandlungen über eine Beilegung des Konflikts beginnen, müssten die Russen auch über ihr eigenes Territorium verhandeln. So könnte die Ukraine die Kursker Gebiete als Druckmittel einsetzen.
Bei seiner Jahres-Pressekonferenz erklärte Putin, Russland erreiche seine Ziele im Ukraine Krieg. Gleichzeitig zeigte er eine Bereitschaft zu "Verhandlungen und Kompromissen".19.12.2024 | 1:42 min
Russland beharrt auf Vorbedingungen für Verhandlungen
In Anbetracht seiner strategischen Initiative und seiner Erfolge auf dem Schlachtfeld hat Russland jedoch alle Vorschläge für einen Waffenstillstand abgelehnt.
Moskau beharrt darauf, dass die Ukraine die "neuen territorialen Realitäten" akzeptieren und damit der Abtretung der besetzten Gebiete an Russland zustimmen muss.
"Es muss was passieren, aber es darf nichts geschehen", so beschreibt ZDF-Korrespondent Ulf Röller die Situation in Brüssel, wenn es um Verteidigung geht - als auch die Ukraine.19.12.2024 | 2:05 min
Außerdem solle Kiew seine Ambitionen auf einen Nato-Beitritt aufgeben und seine Streitkräfte entmilitarisieren, auch wenn letzteres von Moskau bisher nicht klar formuliert wurde.
Diese Botschaften sollen die Trump-Administration wahrscheinlich davon überzeugen, möglichst starken Druck auf Kiew auszuüben und die Ukraine de facto zu einer Teilkapitulation zu zwingen.
Im Laufe des Herbstes intensivierte Russland seine Sabotageangriffe gegen kritische Infrastrukturen der Nato-Staaten. Dazu gehörten auch Angriffe auf Unterseekommunikationskabel und Energieinfrastrukturen. Derzeit ist nicht klar, wie weit Moskau bereit ist, auf diese Weise zu gehen. Doch da der Kreml bisher keine Konsequenzen für diese Angriffe tragen musste, lässt sich erwarten, dass sie fortgesetzt und möglicherweise sogar verstärkt werden.
Auch innerhalb der russischen Herrschaft gibt es keine messbare Sollbruchstelle, obwohl die russische Wirtschaft immer mehr unter den steigenden Kriegskosten leidet. Im kommenden Haushalt 2025 wird Russland mehr als 32 Prozent der Ausgaben für das Militär aufwenden, was einen Rekordwert seit der Sowjetzeit darstellt.
Da Moskau jedoch wohl noch über einige Reserven verfügt, ist es wahrscheinlich in der Lage, den Krieg bis 2025 weiter zu finanzieren.
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.