Israels Armee zu Gaza: Hamas opfert "achtlos Zivilisten"
Leid und Tod der Zivilisten:Israel zu Gaza-Taktik: "Wir sagen: 'Geht!'"
von Michael Bewerunge, Tel Aviv
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Die Kritik an Israel wegen des Leids der Zivilbevölkerung im Gazastreifen wächst. Die Armee beteuert: Sie tue alles, um zivile Opfer zu vermeiden. Doch das gelingt nicht immer.
Es ist ein ungewöhnliches Eingeständnis, dazu noch eines, das man gerade Benjamin Netanjahu wohl kaum zugetraut hätte. Erstmals bedauert er die hohe Zahl der zivilen Opfer durch die israelischen Angriffe auf die Hamas im Gazastreifen. Israel unternehme alles, um Zivilisten zu schützen. Trotzdem sei es nicht gelungen, die Opfer unter der Zivilbevölkerung im Gazastreifen zu vermeiden.
Netanjahu unter Druck
Das zeigt einerseits, unter welch großem internationalen Druck der israelische Ministerpräsident offenbar steht: Immer mehr Staaten kritisieren die Kriegsführung Israels, sogar der engste Verbündete USA. Auf der anderen Seite bestätigt Netanjahu nur das Offensichtliche: Bisher wurden nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums in Gaza etwa 11.000 Menschen getötet.
Israelische Armee erläutert Vorgehen
Die israelische Armee liefert eine genauere Betrachtung ihrer Vorgehensweise. In einem Briefing für ausländische Journalisten stellte die Armee ausführlich dar, wie sie konkret versucht, die Zivilbevölkerung zu schützen. Grundsätzlich würden nur militärische Ziele ausgewählt. Vor einem Angriff mit Drohnen, Artillerie oder Bomben werde das Waffensystem gezielt ausgewählt, um tatsächlich nur das Ziel und nicht noch mehr zu treffen.
Zivilisten, die sich bei oder in der Nähe eines Zieles befinden, würden ausdrücklich vorher gewarnt und zum Verlassen aufgefordert. Gingen Zivilisten in der Nähe in Deckung, werde ein Mindestabstand eingehalten. Der sei noch größer als bei den eigenen Soldaten. Hospitäler würden grundsätzlich nicht mit größeren Waffen angegriffen. Wenn israelische Soldaten von dort beschossen würden - was oft passiere -, erwiderten sie das Feuer zwar, allerdings nur mit kleinkalibrigen Waffen.
Allerdings räumt das Militär ein, dass bei wichtigen Zielen weitere Kriterien zur Anwendung kämen. Gelte es, einen hochrangigen Hamas-Führer zu töten, der sich zum Beispiel in einer Moschee verstecke, dann sei auch das ein legitimes Ziel - selbst wenn sich Zivilisten in der Nähe aufhielten. Zuschlagen werde man aber nur, wenn sich möglichst wenige Zivilisten in der Nähe befänden.
Hamas verstößt abermals gegen internationales Recht
Nach dem Völkerrecht ist ein Angriff auf besonders geschützte Objekte erlaubt, wenn der Gegner diese widerrechtlich nutzt und der militärische Nutzen proportional zu den erwarteten zivilen Opfern steht. Ob ein Angriff proportional war oder nicht, ist im Einzelfall kaum nachzuweisen. So ist die offensichtliche militärische Nutzung von Hospitälern und ähnlich rechtlich geschützten Gebäuden tatsächlich und zuallererst einmal ein Kriegsverbrechen der Hamas.
Auch damit hält sich die Hamas in keiner Weise an die Regeln des internationalen Rechts. Das bezieht sich auf die gesamte Art und Weise ihrer Kriegsführung: Von den barbarischen Morden am 7. Oktober, der verbrecherischen Geiselnahme von Zivilisten, bis hin zum Missbrauch der eigenen Bevölkerung als menschliche Schutzschilde.
Zahlen und Bilder zu Propagandazwecken
Die Zahlen, die die Hamas und internationale Organisationen zu den Todesopfern nennen, scheinen zwar im Großen und Ganzen korrekt zu sein. Allerdings listen sie zwar Frauen und Kinder auf, nicht aber getötete Hamas-Kämpfer. Auch sind auf den Bildern aus Gaza zwar viele getötete Kinder, fast nie aber Bilder von getöteten Kämpfern zu sehen.
Das zeigt nicht nur, dass die Hamas mit den zum Teil von ihr kontrollierten Bildern Propaganda macht, sondern auch, dass die Zahlen mit Vorsicht zu sehen sind: Beim letzten Gazakonflikt im Jahr 2021 wurden nach offiziellen Angaben 349 Palästinenser getötet. Nach israelischen Angaben waren etwa die Hälfte davon Hamas-Kämpfer.
Militärischer Arm der Hamas legitimes Ziel
Und auch in diesem Krieg müssten mindestens mehrere Tausend der Getöteten zum militärischen Arm der Hamas gehören. Dieser ist im Unterschied zu Zivilisten auf veröffentlichten Bildern allerdings ein legitimes militärisches Ziel. Bei den Opferzahlen handelt es sich also wahrscheinlich in deutlich geringerem Umfang nur um Zivilisten.
Zurück zur Ausgangsfrage: Wie kann es sein, dass Israel trotz seines hohen Anspruches so viele Zivilisten tötet? Eine Antwort liegt bei der Vielzahl von Luftangriffen mit schweren Bomben. Luftangriffe sind nicht so zielgenau wie Angriffe von Bodentruppen.
Gerade in der Anfangsphase des Krieges gab es immer wieder Dutzende oder noch mehr zivile Opfer durch die Vielzahl an Bombenangriffen. Bomben, die darüberhinaus noch einen der dichtbesiedeltsten Orte der Welt trafen.
Israelische Armee: Hamas benutzt Zivilisten
Die Armee räumte ein, dass es in Einzelfällen auch zu Fehlern oder Versagen einzelner Soldaten gekommen sein könnte. Am Ende bleibt jedoch die Frage von Anspruch und Wirklichkeit der israelischen Kriegsführung. Doron Spielman, Presseoffizier der israelischen Streitkräfte, antwortet nach dem Briefing der Armee auf unsere Nachfrage, die Hauptschuld liege bei der Hamas. Er sagt:
Jeder Hamas-Kämpfer sei "ein Schütze, der eine Geisel hält". Laut dem Pressesprecher sterben "Zivilisten in so großen Zahlen", weil die Hamas "ihre Zivilisten so achtlos, so bereitwillig, ohne jede Überlegung" benutze.
Es bleiben Widersprüche und eine unklare Faktenlage. Das Eingeständnis von Benjamin Netanjahu zeigt aber, dass in diesem Krieg - wie in jedem Krieg - humanitärer Anspruch und militärische Kriegsführung von vornherein unvereinbar sind. "Darum werfen wir Flugblätter ab und rufen die Menschen auf ihren Handys an", so der israelische Presseoffizier: "Wir sagen: 'Geht!'"
Michael Bewerunge ist Leiter des ZDF-Auslandstudios Tel-Aviv.
Die israelische Armee hat nach eigenen Angaben eine Militäroperation im Al-Schifa-Krankenhaus in Gaza durchgeführt. Es handle sich um eine gezielte Operation gegen die Hamas.