Gaza-Aktivist über Demos gegen Hamas: "Menschen haben genug"

Interview

Demonstrationen gegen Hamas:Gaza-Aktivist: "Die Menschen haben genug"

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Moumen Al-Natour war politischer Gefangener der Hamas. Heute führt er trotz Drohungen Proteste gegen das Regime - für ein Gaza ohne Hamas. Und für Frieden mit Israel.

Palästinenser protestieren am 26.03.2025 in Beit Lahiya im nördlichen Gazastreifen gegen die Hamas
Im Gazastreifen kam es zuletzt zu Protesten gegen die Hamas.
Quelle: AP

Erstmals seit Jahren wagen es Tausende Menschen in Gaza, offen gegen die Hamas zu protestieren. Trotz Repression, Gewalt und Lebensgefahr fordern sie ein Ende von Unterdrückung, Hunger und Krieg. Moumen Al-Natour, Mitgründer der palästinensischen Bewegung "Wir wollen leben", ist eine der führenden Stimmen dieses Widerstands. Im Interview spricht der ehemalige politische Gefangene der Hamas über den Preis der Wahrheit - und warum Schweigen für ihn keine Option mehr ist.
ZDFheute: Wie gestaltet sich das tägliche Leben in Gaza unter den aktuellen Umständen?
Moumen Al-Natour: Das Leben in Gaza ist kaum noch als solches zu bezeichnen - oder wie Präsident Trump einmal sagte: "Die Hölle." Es gibt keine Häuser mehr, wir leben in abgenutzten Zelten, sauberes Trinkwasser ist nicht verfügbar, die meisten Nahrungsmittel fehlen, und Brot ist extrem teuer. In letzter Zeit hat sich die Mehlkrise dramatisch verschärft - ein Kilo kostet mittlerweile 15 US-Dollar.
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Warum sich die Teile der palästinensischen Bevölkerung gegen die Hamas wenden, erklärt Nahost-Experte Sascha Bruchmann.26.03.2025 | 12:53 min
Ich bin nach der Waffenruhe im Januar nach Gaza-Stadt zurückgekehrt. Mein Zuhause war kaum wiederzuerkennen - fast vollständig zerstört. Und kurz darauf, im März, begann der Krieg schon wieder von vorn.
ZDFheute: Was hat Ihrer Meinung nach die jüngste Protestwelle gegen die Hamas ausgelöst?

Die Menschen haben genug. Die fortwährende Vertreibung, das endlose Leid, Hunger, Armut, Hoffnungslosigkeit - das ist unser Alltag.

Moumen Al-Natour, Aktivist aus Gaza

Gleichzeitig erleben wir, wie die Hamas humanitäre Hilfe stiehlt, weiterverkauft und sich daran bereichert. Die Preise explodieren, während wir hungern. Sie verdienen Geld mit unserem Leid.
All das geschieht unter der Kontrolle einer Bewegung, die vorgibt, uns zu "befreien", aber das ist keine Befreiung, das ist Tyrannei.
Anti-Hamasproteste im Gazastreifen
Trotz der autoritären Herrschaft der Hamas gehen im Gazastreifen erstmals Protestierende auf die Straße. 26.03.2025 | 1:35 min
ZDFheute: Warum glauben Sie, gehen die Menschen gerade jetzt auf die Straße - nach 18 Monaten Krieg?
Al-Natour: Wir haben alles verloren. Wenn ein Mensch nichts mehr zu verlieren hat, hat er auch keine Angst mehr. Die Menschen in Gaza wollen endlich leben. Sie wollen nicht mehr Teil eines endlosen Kreislaufs aus Tod, Vertreibung und Schweigen sein, der seit dem verfluchten 7. Oktober andauert.
Das ist keine Bewegung einer bestimmten Altersgruppe. Es ist das kollektive Aufbegehren eines ganzen Volkes. Unsere Parolen sind klar: "Nieder mit der Hamas", "Hamas raus aus Gaza", "Gebt die israelischen Geiseln frei", "Ja zum Frieden mit Israel". Wenn die Hamas nicht gestoppt wird, wird dieser Krieg nie enden. Wenn wir sie nicht aufhalten, wird auch der nächste Krieg kommen.

Moumen al-Natour
Quelle: privat

... ist ein Rechtsanwalt aus Gaza, Mitorganisator der Straßenproteste "Wir wollen leben" von 2019 und ehemaliger politischer Gefangener der Hamas. Die Bewegung, die er mitbegründete, entstand aus wachsender wirtschaftlicher Not und politischer Frustration: Tausende Menschen gingen damals in Gaza auf die Straße, um gegen hohe Lebenshaltungskosten, Arbeitslosigkeit, Korruption und die repressive Herrschaft der Hamas zu demonstrieren.

Al-Natour wurde durch sein Engagement zu einem der bekanntesten Gesichter des zivilen Protests im Gazastreifen. Heute zählt er zu den führenden Stimmen des gewaltfreien Widerstands gegen das Hamas-Regime.

ZDFheute: Wie reagiert die Hamas auf diese Proteste?
Al-Natour: Die Hamas geht brutal gegen ihre Kritiker vor. Die Islamisten haben den jungen Aktivisten Odai Al-Rubai getötet, nur weil er sich erhoben hat. Demonstrationen in Jabalia, Beit Lahia, Nuseirat und Chan Yunis wurden brutal niedergeschlagen. Die Bewegung hat uns als "Kollaborateure Israels" diffamiert.

Die Hamas hat mich wiederholt verhaftet, gefoltert und bedroht - und auch jetzt erhalte ich ernsthafte, gezielte Drohungen wegen meines öffentlichen Engagements.

Moumen Al-Natour, Aktivist aus Gaza

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ZDFheute: Was gibt Ihnen den Mut, öffentlich zu sprechen - trotz der Risiken, die das mit sich bringt?
Al-Natour: Ich bin Rechtsanwalt und ich habe die Bewegung "Wir wollen leben" im Jahr 2019 mitgegründet. Seitdem habe ich sie angeführt - bis heute. Die Hamas hat mich 20 Mal verhaftet, gefoltert, bedroht. Aber ich mache weiter, weil ich weiß: Schweigen kostet uns am Ende noch mehr.
Ich rufe die Welt auf: Hört uns zu. Besonders jene in Europa und den USA, die sich solidarisch mit Palästina zeigen - unterstützt uns Menschen in Gaza, nicht die Hamas. Wir wollen unsere Zukunft selbst gestalten. Wir wollen frei sein - frei von Besatzung, aber auch frei von der islamistischen Hamas.
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ZDFheute: Welche Forderungen haben Sie an die internationale Gemeinschaft?
Al-Natour: Von der internationalen Gemeinschaft und den arabischen Ländern erhoffen wir uns Unterstützung für eine sichere Zone in Gaza - ohne Hamas, unter palästinensischer Zivilverwaltung. Dort sollen Wasser, Nahrung, Medikamente und Unterkünfte ungehindert ankommen können. Und an die palästinensische Führung sage ich:

Tretet zurück. Ihr habt uns im Stich gelassen - 2007 und wieder nach dem 7. Oktober. Ihr habt uns der Hamas überlassen, ohne Schutz, ohne Stimme.

Moumen Al-Natour, Aktivist aus Gaza

Jetzt ist die Zeit gekommen, dass wir, die Menschen vor Ort, die Verantwortung übernehmen. Für ein freies, friedliches Gaza.
Das Interview führte ZDFheute-Redakteurin Ninve Ermagan.

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