Ukraine-Krieg: Wunsch nach Waffenruhe ohne Kapitulation

    Interview

    Debatte über Verhandlungen:Wunsch nach Waffenruhe ohne Kapitulation

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    Wie denken Ukrainer über die Politik Selenskyjs, und wie steht das erschöpfte Land zu Verhandlungen mit Russland? Ukraines bekanntester Historiker erklärt die Zusammenhänge.

    Menschen räumen die Trümmer des zerstörten Gebäudes des "Okhmadit"-Kinderkrankenhauses nach einem russischen Raketenangriffs weg.
    Nach einem russischen Raketenangriff räumen Menschen in Kiew die Trümmer des zerstörten Gebäudes weg. Im dritten Kriegsjahr fühlen sich viele ernüchtert und desillusioniert.
    Quelle: dpa

    Prof. Jaroslaw Hrytsak lehrt an der Ukrainischen Katholischen Universität in Lwiw und gilt als einer der einflussreichsten ukrainischen Historiker der Gegenwart. Er arbeitet als Autor und schreibt über den Widerstand der Ukraine gegenüber der russischen Aggression.
    ZDFheute: Wie hoch ist das Vertrauen der ukrainischen Bevölkerung aktuell in Präsident Selenskyj?
    Prof. Jaroslaw Hrytsak: Zu Beginn des Krieges war Präsident Selenskyj hoch geschätzt, weil er sein Land nicht im Stich gelassen hat. Zum ersten Mal in der Geschichte der Ukraine gab es eine Bindung zwischen Gesellschaft und Staat und sie vertraute der Regierung. Doch das zerfällt allmählich im dritten Kriegsjahr, viele sind ernüchtert und desillusioniert. Die Beliebtheit des Präsidenten ist stark gesunken.

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    ZDFheute: Was ist konkret passiert?
    Prof. Hrytsak: Er liefert keine Erfolgsgeschichte mehr, seitdem die Gegenoffensive der Ukraine letztes Jahr gescheitert ist. Er ist an seinem eigenen Narrativ gescheitert.

    Die Erwartungen an Selenskyj waren sehr hoch, weil er dieses heroische Narrativ selbst geschürt hat. Und da es sich nicht erfüllt hat, sind viele inzwischen frustriert. Gleichzeitig arbeitet der Präsident weiterhin wahnsinnig hart, viele könnten diese Bürde nicht so lange ertragen.

    Prof. Jaroslaw Hrytsak, Ukrainische Katholische Universität, Lwiw

    ZDFheute: Sprechen wir über einen weiteren Kritikpunkt: Die Mobilisierung neuer Soldaten für die Front. Trotz neuen Registrierungs-Bemühungen läuft sie nur sehr schleppend.
    Prof. Hrytsak: Es läuft dramatisch langsam, die Ukraine ist vermutlich ein Jahr hintendran. Selenskyj ist ein Populist, ein positiver Populist, er möchte sich nicht unbeliebt machen und verfolgt daher keine drastische, radikale Lösung, so kamen die Reformen zur Mobilisierung zu spät. Viele wissen, wenn sie einmal eingezogen werden ist das ein One-Way-Ticket, die meisten können die Front nur verlassen, wenn sie verletzt werden oder eben sie sterben.
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    ZDFheute: Wie steht Selenskyj aktuell zu Verhandlungen mit Russland?
    Prof. Hrytsak: Es gibt eine große Lücke zwischen dem, was er sagt, das ist das heroische Narrativ vom Kampf bis zum Ende, und dem, was gleichzeitig wirklich passiert. Selenskyj lotet hinter den Kulissen verschiedene Optionen aus. Doch darüber ist in der Öffentlichkeit nichts bekannt. Es gibt das allgemeine Verständnis in der Ukraine, dass dieser Krieg lange dauern wird, doch er erschöpft die Ukrainer im dritten Kriegsjahr, so wollen viele, dass er früher als später endet.

    Die Ukraine hat Interesse an Verhandlungen mit der Unterstützung des Westens, aber zu ihren Konditionen, die Ukraine will nicht kapitulieren.

    Prof. Jaroslaw Hrytsak, Ukrainische Katholische Universität, Lwiw

    ZDFheute: Was konkret bedeutet ukrainische Konditionen?
    Prof. Hrytsak: Das bedeutet die Wiederherstellung der Grenzen von 1991. (Anmerkung: Als die Sowjetunion im Jahr 1991 zerfiel, erklärte die Ukraine ihre Unabhängigkeit. Sowohl die Krim, als auch Donezk und Luhansk waren zu diesem Zeitpunkt Teil des Landes.) Aktuell kennt allerdings niemand die roten Linien, die der Präsident ziehen würde. Es wird in der Gesellschaft zwar darüber diskutiert, doch öffentlich ist nichts bekannt.
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    ZDFheute: Fürchtet Selenskyj den Rückhalt des Westens zu verlieren, wo rechte Stimmen in vielen Ländern Verhandlungen mit Russland fordern?
    Prof. Hrytsak: Die Frage dieses Krieges ist, wer wird als Erstes kollabieren? Ohne die westliche Unterstützung wird es die Ukraine sein, mit seiner Unterstützung ist es Russland, so ist die Unterstützung des Westens entscheidend für die Ukraine. Der Nordwesten Europas, Großbritannien, Dänemark, die Niederlande, die Skandinavier, die Polen stehen nach wie vor hinter der Ukraine. Wir sind uns bei Deutschland nicht sicher, wie es weitergeht, obwohl wir ihnen vertrauen, auch bei Frankreich wissen wir das nicht.

    Putin möchte den Westen unterjochen, das sollte ganz Europa klar sein.

    Prof. Jaroslaw Hrytsak, Ukrainische Katholische Universität, Lwiw

    ZDFheute: Glauben Sie, die Ukraine würde auch über ein Ende des Krieges verhandeln, wenn sie dabei die Krim und den Donbass nicht wieder zurückbekommt?
    Prof. Hrytsak: Sollte es eine Strategie geben, hofft die Ukraine aktuell darauf, dass über eine Waffenruhe verhandelt wird. Niemand glaubt daran, dass man mit Putin über eine langfristige Friedenslösung verhandeln kann, sondern, dass während einer Waffenruhe gemeinsam mit dem Westen ausgelotet werden könnte, wie es weitergeht. Wir reden nicht über eine Kapitulation, sondern die Ukraine versteht, dass die Rückeroberung der Krim und des Donbass perspektivisch lange dauern wird, aber wir geben sie nicht auf.
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    ZDFheute: Sehen Sie Anzeichen, dass sich die russische Seite auf Verhandlungen einlässt?
    Prof. Hrytsak: Das müssten Sie Putin fragen, es kommt auf ihn auf der anderen Seite an. Bislang sehen wir nicht, dass Putin Interesse an Verhandlungen hat, da aktuell die Zeit auf seiner Seite ist. Was er vorschlägt, ist eine Kapitulation der Ukraine.
    ZDFheute: Sind sie der Meinung, dass die ukrainische Gegenoffensive im russischen Kursk die Ukraine in eine bessere Verhandlungsposition bringt?
    Prof. Hrytsak: Es ist zu früh, um das beurteilen zu können. Aus politischer Sicht ist sie in jedem Fall ein großer Erfolg, den die Ukraine dringend gebraucht hat. Außerdem hat sie eine Botschaft an den Westen gesendet, der immer weniger daran glaubte, dass die Ukraine erfolgreich sein wird. Aus militärischer Perspektive kann man das noch nicht final beurteilen.
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    ZDFheute: Ist Selenskyj der Richtige, um den Krieg auch zu beenden?
    Prof. Hrytsak: Auch das lässt sich noch nicht beurteilen. Die Gesellschaft möchte im Krieg keinen Wechsel an der Spitze, denkt aber schon über neue Köpfe nach. Fakt ist, dass wir seit dem Euromaidan eine Revolution der Generationen sehen. Selenskyjs Team ist um die 40 Jahre alt. Putins Team ist um die 70 Jahre alt. Dieser Prozess wird weiter voranschreiten. Politiker wie Ex-Präsident Poroschenko werden keine Chance mehr auf solche Ämter haben, weil die Revolution der Jungen nicht mehr aufzuhalten ist, das ist der größte Erfolg der Ukrainischen Unabhängigkeit. Diese Generation will zum Westen gehören und nicht zu Russland. Das gibt mir Hoffnung, dass sich die Ukraine in die richtige Richtung bewegt.
    Das Interview führte Alica Jung. Sie berichtet als Reporterin aus der Ukraine.

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    Quelle: ZDF

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