Das ukrainische Mobilisierungssystem ist mangelhaft. Es gibt zu wenig neue Soldaten, um Verluste auszugleichen. Gründe: fehlende Aufklärung, kaum Motivation und starke Korruption.
Die Ukraine schafft es nicht, ausreichend Sodaten zu mobilisieren - nur wenige lassen sich ausbilden, wie hier bei Saporischschja. (Symbolbild)
Quelle: dpa
Die ukrainischen Streitkräfte, insbesondere die Armee, leiden zunehmend unter dem Mangel an ausgebildeten Männern und Frauen. Die von Präsident Wolodymyr Selenskyj im April 2024 unterzeichnete Änderung des Mobilisierungsgesetzes brachte nur vorübergehend Abhilfe.
Mit dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes werden Männer verpflichtet, ihre Daten - die zur Einberufung notwendig sind - in einem zentralisierten staatlichen System zu aktualisieren. Von da an kann das Mobilisierungssystem sie leichter erreichen. Zumindest lautet so die Theorie. In der Praxis ist die Funktionsweise des Systems jedoch noch sehr weit vom Idealzustand entfernt. Das zeigen vier Knackpunkte:
1. Motivation, Aufklärung und Interesse fehlen
Das wohl wichtigste Problem ist, dass viele Männer im wehrfähigen Alter nicht die nötige Motivation haben, ihr Land zu verteidigen - und die fehlende Motivation ist zum Teil das Versagen des Staates.
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Obwohl der Krieg in der Ukraine in vollem Umfang seit fast genau drei Jahren andauert, wurde das alte, ineffiziente ex-sowjetische Mobilisierungssystem erst mehr als zwei Jahre nach der russischen Invasion reformiert.
Soweit sich aus offenen Quellen rekonstruieren lässt, war die Verzögerung vor allem auf innenpolitische Gründe zurückzuführen - das heißt, dass eine groß angelegte Mobilisierung in weiten Teilen der ukrainischen Bevölkerung äußerst unpopulär ist.
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Bis zum Ende der gescheiterten Gegenoffensive im Herbst 2023 hat dieser Staat noch nicht einmal damit begonnen, der ukrainischen Gesellschaft angemessen zu erklären, dass der Krieg langwierig sein würde und die vorhandenen Streitkräfte für die Führung eines langen Krieges nicht ausreichen würden.
Daher kam die Verschärfung des Mobilisierungssystems als unangenehme, kontrastreiche Überraschung im Vergleich zu den staatlichen Erzählungen der beiden vorangegangenen Jahre.
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2. Einberufung unbefristet - Rückkehr ungeregelt
Nach ukrainischem Recht kann ein Soldat, sobald er einberufen wurde, die Armee nicht mehr verlassen bis der Krieg vorbei ist. Es gibt nur sehr wenige andere Möglichkeiten, die Armee zu verlassen: wenn er schwer verwundet wird oder sich in einem solchen psychologischen Zustand befindet, dass ein weiterer bewaffneter Dienst nicht möglich ist. Ein weiterer möglicher Ausweg ist die Geburt des dritten Kindes des Soldaten.
Im Allgemeinen herrscht jedoch in der Öffentlichkeit die Auffassung, dass jemand, der einmal mobilisiert wurde, die Armee praktisch nur auf einer Bahre oder in einem Leichensack verlassen kann. Das Fehlen einer systematischen, geregelten Demobilisierung im Anschluss an eine befristete Verwendung ist ein großes Hindernis für die Motivation.
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3. Korruption, Willkür und Gewalt
Das Mobilisierungssystem wurde durch systematische Korruption erschüttert. Die Einberufung erfolgt durch die sogenannten Territorialen Zentren für Rekrutierung und soziale Unterstützung, abgekürzt als TTsK.
Die TTsK werden häufig für Fälle von Menschenrechtsverletzungen kritisiert. Zudem sollen sie auch Menschen einberufen, die gesundheitlich nicht einmal für einfache Hilfsposten geeignet sind - geschweige denn für den Kampf.
Inzwischen können sich Männer mit Geld oft von der Wehrpflicht freikaufen. Die Preise variieren angeblich, aber die aufgedeckten Skandale sind so häufig, dass man mit Sicherheit sagen kann, dass das Problem der Korruption innerhalb der TTsK tatsächlich systematisch ist.
Quelle: DGAP
... leitet das Programm "Europas Zukunft" für die Bertelsmann Stiftung in Berlin. Er forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement. Für ZDFheute analysiert er regelmäßig die militärischen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt.
Quelle: DGAP
... ist Associate Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Er forscht und publiziert zu Streitkräften in Osteuropa und Russland und hybrider Kriegsführung.
In der Zwischenzeit werden diejenigen, die nicht über Geld oder Beziehungen verfügen, oft durch übermäßige Gewaltanwendung mobilisiert: Es gibt häufige Berichte über Misshandlungen und Menschenrechtsverletzungen durch TTsK-Soldaten, so dass die TTsK kaum in der Lage ist, solche Männer zu mobilisieren, die tatsächlich ihre militärischen Pflichten erfüllen könnten. Zudem ist ihre Zahl zu gering.
4. Viele Wehrfähige nicht mehr erreichbar
Da sich die Modernisierung des Mobilisierungssystems um zwei Jahre verzögert hat, sind bereits mehrere zehntausend ukrainische Männer ins Ausland gegangen. Obwohl Reisen ins Ausland für Männer im wehrfähigen Alter mit der Einführung des Kriegsrechts am 25. Februar 2022 verboten wurden, haben viele dennoch einen Weg gefunden. Diese Männer sind für das Mobilisierungssystem, also für den gesamten Militäreinsatz, praktisch unerreichbar.
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Folge: Ermüdung und sinkende Kampfkraft - Reform nötig
Eine Reform des Mobilisierungssystems wäre nicht nur notwendig, um die Verluste auszugleichen, sondern auch, um die notwendige Rotation der Kampftruppen zu gewährleisten. Beides ist derzeit nicht in dem erforderlichen Umfang möglich.
Nach der Reform des Mobilisierungssystems gab es zwar für einige Monate einen sprunghaften Anstieg der Zahl der mobilisierten Soldaten, aber derzeit liegt die monatliche Zahl weit unter dem, was notwendig wäre. Infolgedessen sind die meisten Militäreinheiten personell unterbesetzt. Deshalb ist ihr Kampfwert stark beeinträchtigt.
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Schwierige Lage besonders bei Infanterie
Besonders schlimm ist die Situation in den Reihen der Infanterie. Die Infanterie war schon immer die gefährlichste Waffengattung, und dieser Krieg bildet da keine Ausnahme. Der Mangel an Infanteristen ist so groß, dass die ukrainische Militärführung zunehmend gezwungen ist, gut ausgebildete Spezialisten aus anderen Zweigen abzuziehen, um die dezimierten Reihen der Infanterie aufzufüllen.
Doch die Entsendung von Artilleristen, Logistikern, Luftabwehrsoldaten und Fahrzeugführern in die Schützengräben hilft dem Kernproblem kaum. Dafür werden aber die Bereiche, aus denen die Männer abgezogen werden, dezimiert und geschwächt.
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Fazit: Weitere Reform dringend erforderlich
Die Ukraine hat nicht mehr so viele freiwillige Männer und Frauen wie zu Beginn der groß angelegten Invasionen. Diejenigen, die dienen wollten, tun dies bereits oder sind aus einem der oben beschriebenen Gründe bereits aus dem Dienst ausgeschieden.
Daher wäre es zwingend erforderlich, die Effizienz des Mobilisierungssystems ernsthaft zu erhöhen. Andernfalls könnte die Nachhaltigkeit der militärischen Anstrengungen der Ukraine bereits mittelfristig, also in den nächsten sechs bis acht Monaten, gefährdet sein, wenn die Verluste weiterhin höher sind als die Ersatzleute.
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.