Charkiws Bürgermeister über Krieg und Blumen im Interview
Exklusiv
Interview mit Ihor Terekhov :Charkiws Bürgermeister über Krieg und Blumen
von Jenifer Girke, Charkiw
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Seine Stadt ist im Visier Putins. Doch Terekhov glaubt fest an eine blühende Zukunft für Charkiw. Blumen seien sowieso wichtig, auch für Soldaten. Warum, verrät er im Interview.
Ihor Terekhov ist Bürgermeister von Charkiw. Die ukrainische Stadt ist bedroht wie keine andere. Im Gespräch mit Korrespondentin Katrin Eigendorf verrät er, was ihm Hoffnung gibt.24.06.2024 | 16:01 min
Um etwas so Hässliches wie den Krieg auszuhalten, braucht es zwischendurch etwas Schönes - deswegen sieht man in Charkiw großflächig angelegte Blumenfelder in prächtigen Farben, natürlich auch in Blau-Gelb. Die Blumenidee wird von ganz oben unterstützt, von Bürgermeister Ihor Terekhov persönlich.
Der sagt dazu im ZDF-Interview: "Wenn Soldaten eine kurze Ruhepause haben, kommen sie nach Charkiw und sehen, dass alles funktioniert, dass es Blumen gibt, dass alles sauber und schön ist, dann haben sie eine ganz andere Stimmung."
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Motivation für den Kampf durch Blumen in der Stadt. Es ist vielleicht diese positive, nahbare Art, die Ihor Terekhov so beliebt bei den Einwohnern der ostukrainischen Metropole macht. Eine Stadt, die am Wochenende zweimal hintereinander mit russischen Gleitbomben angegriffen wurde. Mitten am Tag, mitten in der Stadt. Unter den getroffenen Objekten ein Wohnhaus und eine Schule, insgesamt mehr als 60 Verletzte, vier Tote.
Charkiw im Mai: 20 Tage lang Raketenalarm
Ein ziemlich kahler Besprechungsraum tief unter der Erde in einem Luftschutzbunker. An der Wand stehen zwei großen Flaggen, eine grüne für Charkiw, daneben eine blau-gelbe für die Ukraine. Auf dem Tisch dasselbe in Klein. Das ZDF-Team baut auf, bringt diverse Kameras in Position - da kommt Ihor Terekhov auf einmal durch eine Seitentür hinein, lässig in Jeans und Sneakers.
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Doch lässig ist sein Job ganz und gar nicht: "Die Luftangriffe auf Charkiw im Mai waren schrecklich. Es gab 76 Anschläge auf die Stadt."
"Allein im Mai haben wir 39 Menschen, die getötet wurden. Darunter sind Frauen und Kinder." Das Ziel Russlands sei es, die Charkiwer einzuschüchtern, sodass sie die Stadt verlassen. "Aber wie Sie sehen können, ist es nicht gelungen", sagt Terekhov. In Gesprächen mit Menschen auf der Straße bestätigt sich das nur teilweise: Denn viele sind extrem eingeschüchtert, aber sie bleiben trotz ihrer Angst, einige, weil ihnen schlichtweg die Mittel fehlen.
Die zweite große Herausforderung, die den 57-Jährigen momentan umtreibt, ist die Sorge vor dem nächsten Winter. Der ukrainische Energieversorger YASNO rechnete kürzlich aus, dass die Ukrainer landesweit mit nur fünf bis sechs Stunden Strom pro Tag im Winter rechnen können. "Wir haben keine eigene Stromerzeugung in der Stadt. Wir generieren kein einziges Kilowatt Strom. Wir werden von anderen Orten damit versorgt. Und das ist eine sehr heikle Angelegenheit." Deswegen sei es wichtig, die Energie-, Wärme- und Wasserversorgung dezentralisieren zu können.
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Charkiw auf Hilfe angewiesen
Charkiw braucht internationale, auch deutsche Hilfe, um seine Bürger versorgen und sich gegen den russischen Feind verteidigen zu können. Das bedeutet: immer wieder um Unterstützung bitten, lange Verhandlungen aushalten, abhängig sein. Für den Politiker Terekhov nichts Ungewöhnliches, er zeigt sogar Verständnis für den Westen: "Klar gibt es ein bestimmtes Maß von Müdigkeit. Permanent geht es um die Ukraine, um den Krieg in der Ukraine." Diese Worte von einem ukrainischen Bürgermeister klingen fast bizarr, befinden sich doch die Ukrainer in einem aktiven Krieg, seine Charkiwer, er selbst.
Mit Deutschland habe man einen "konstruktiven Dialog" und Terekhov stehe mit dem Botschafter in engem Kontakt, der Austausch sei sehr "effektiv" und "fruchtbar". Charkiw habe "die Unterstützung Deutschlands und ich bin dem deutschen Volk und der deutschen Regierung dankbar", betont Terekhov.
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Das Leben in Charkiw soll möglichst schön sein - trotz Krieg
Die Ukraine verteidige sich nicht nur selbst, sie stehe für die demokratischen Werte in der ganzen Welt. Warum greife Russland sie also so vehement an? "Weil wir ein Teil der europäischen Gemeinschaft werden wollen. Weil unsere Wahl auf Europa fällt. Sollen wir dafür getötet werden? Das ist schrecklich."
Aus dieser Vision, ein Teil Europas zu sein, scheint Terekhov Hoffnung und Durchhaltevermögen zu schöpfen.
Nach etwa 30 Minuten muss er gehen, er hätte am Nachmittag eine wichtige Veranstaltung - eine Ehrung von Schulabgängern, ebenfalls unterirdisch, versteckt vor Angriffen, unter einem Konzertsaal. Sie werden Festkleider tragen, die Hymne singen und die Zukunft von zahlreichen jungen Ukrainern feiern. Das Leben soll eben trotz Krieg möglichst schön sein - so wie die Blumen mitten in Charkiw.
Das Interview führte ZDF-Sonderkorrespondentin Katrin Eigendorf. Zusammengefasst hat es Jenifer Girke.
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.