Militäranalyse: Was aus der ukrainischen Gegenoffensive wurde
Analyse
Pattsituation an der Front?:Was aus der ukrainischen Gegenoffensive wurde
von Christian Mölling, András Rácz
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Der Befehlshaber der ukrainischen Streitkräfte hat eingeräumt, dass die Ukraine ihre Ziele mit der Gegenoffensive nicht erreicht hat. Droht jetzt ein langer Stellungskrieg?
Ukrainische Soldaten an einem T-64 Panzer in der Region Saporischschja
Quelle: Reuters
Der Befehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, General Walerij Saluschnyj, hat in einem Interview und einem Artikel, die von "The Economist" veröffentlicht wurden, eine ernüchternde Bilanz des aktuellen Kriegszustands gezogen. Er gab offen zu, dass die Gegenoffensive der Ukraine nicht die gewünschten Ziele erreicht hat und die Situation zunehmend einer Pattsituation ähnelt. Zwar bewertet der ukrainische Präsident Selenskyj die derzeitige Lage nicht als Patt. Doch ist derzeit keine der beiden Seiten in der Lage, groß angelegte Offensivoperationen durchzuführen.
Dies ist auch deshalb besonders wichtig, weil es das erste Mal ist, dass ein ukrainischer Spitzenbeamter offen bestätigt, dass das Ziel tatsächlich darin bestand, die von Russland besetzten Gebiete vollständig zu halbieren und die Krim zu erreichen. Auch wenn es viele indirekte Indizien dafür gab, ist die Bestätigung des obersten Befehlshabers der Ukraine in der Tat wertvoll.
Die Gegenoffensive der Ukraine kommt nur langsam voran. ZDFheute live spricht mit dem Berater des ukrainischen Verteidigungsministers Jurij Sak über die militärische Lage. 10.07.2023 | 33:59 min
Fehleinschätzungen und mangelnde Informationen
Was Saluschnyj nicht ausführt, aber implizit anklingen lässt, ist, dass die ins Stocken geratene Gegenoffensive bedeutet, dass nicht nur die ukrainischen Militärplaner den Zustand der russischen Verteidigung und der ukrainischen Armee nicht richtig eingeschätzt haben. Auch die westlichen Militärplaner und Nachrichtendienste haben die Ukraine mit den für eine nüchterne Einschätzung erforderlichen Informationen nicht versorgt.
Saluschnyj bestätigte auch eine Reihe von wichtigen Merkmalen der laufenden Kämpfe: Der General äußerte sich ausführlich zu den russischen Fähigkeiten zur elektronischen Kriegsführung und wies darauf hin, dass GPS-Störung ein großes Problem darstellt.
Die erhofften Gebietsgewinne der Ukrainer bleiben hinter den Erwartungen zurück. Bei ZDFheute live ordnet Sicherheits- und Militärexpertin Claudia Major die Lage ein. 02.11.2023 | 26:38 min
Kurzfristige technologische Überlegenheit oder langer Stellungskrieg
Der Schlüssel zum Sieg für die Ukraine liegt darin, eine technologische Überlegenheit zu erreichen, um die zahlenmäßige Überlegenheit Russlands zu überwinden, da der Ukraine sonst langfristig die Ressourcen ausgehen könnten. Als Schlüsselkomponenten nannte er insbesondere F-16-Kampfflugzeuge, elektronische Kriegsführung und Entminungsfähigkeiten.
Russische Truppen mit geringen Geländegewinnen bei Awdijiwka
Unterdessen griffen die russischen Truppen den ukrainischen Vorposten bei Awdijiwka weiter an. Trotz hoher Verluste gelang es ihnen, eine wichtige Eisenbahnlinie im nördlichen Teil des Vorstoßes zu erreichen und auch im Südwesten vorzurücken.
Die russische Offensive kam auch in der Region Kupjansk voran, wenn auch nur geringfügig.
Brückenkopf über Dnipro erweitert
Den ukrainischen Streitkräften gelang es, den kleinen Brückenkopf, den sie am linken Ufer des Dnipro gewonnen hatten, zu erweitern. Bei dem Dorf Krynky wurden sie jedoch durch einen russischen Gegenangriff aufgehalten, so dass der Brückenkopf zwar noch besteht, aber nicht weiter ausgebaut werden kann.
Quelle: DGAP
... leitet das Programm "Europas Zukunft" für die Bertelsmann Stiftung in Berlin. Er forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement. Für ZDFheute analysiert er regelmäßig die militärischen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt.
Quelle: DGAP
... ist Associate Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Er forscht und publiziert zu Streitkräften in Osteuropa und Russland und hybrider Kriegsführung.
Nordkoreas Lieferungen helfen Russland
Die erhöhte Offensivfähigkeit der russischen Streitkräfte ist nicht auf die Ankunft neuer Infanterie- oder Panzereinheiten zurückzuführen, sondern auf die ersten Munitionslieferungen aus Nordkorea. Pjöngjang hat bereits rund eine Million Artilleriegranaten nach Russland geliefert, und die Zahl steigt weiter an, so dass die russische Artillerie ihre Aktivität erheblich steigern kann.
Da die westliche Munitionsproduktion noch immer nicht in Schwung gekommen ist, kann die Ukraine dieser intensiveren russischen Artillerietätigkeit kaum etwas entgegensetzen.
Die Region rund um Dnipro wird von den Russen verstärkt ins Visier genommen. Befürchten die Menschen hier, dass ihr Kampf wegen des Hamas-Israel-Krieges vergessen wird?31.10.2023 | 2:27 min
Erste systematische Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur
Im Laufe der Woche begann Russland damit, die ersten Elemente der ukrainischen Energieinfrastruktur ins Visier zu nehmen, insbesondere im Süden des Landes. Eine Reihe von Fernwärmestationen und Umspannwerken wurden schwer getroffen, was zu dauerhaften Stromausfällen führte.
Höchstwahrscheinlich handelt es sich hierbei noch nicht um den lang erwarteten, konzentrierten Hauptangriff auf die ukrainischen Energienetze, sondern eher um eine Art Ouvertüre dazu, möglicherweise um die Reparaturkapazitäten der Ukraine zu testen.
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.