Gegenoffensive: Ukraine auf See erfolgreicher als an Land
Analyse
Gegenoffensive hinter Erwartung:Ukraine auf See erfolgreicher als an Land
von Christian Mölling, András Rácz
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Die erhofften Gebietsgewinne des ukrainischen Militärs bei Saporischschja sind hinter den Erwartungen zurück geblieben. Die Angriffe im Schwarzen Meer waren jedoch erfolgreich.
Ukrainische Soldaten konnten in der Region Saporischschja längst nicht so viel erreichen, wie erhofft.
Quelle: Reuters
Die Gegenoffensive der Ukraine, die Anfang Juni 2023 begann, darf nicht isoliert, sondern muss im Kontext der gesamten strategischen Lage bewertet werden. Die Beurteilung eines Krieges allein auf der Grundlage der Entwicklung eines einzelnen Frontabschnitts ergibt kaum ein genaues Bild.
Saporischschja war eindeutig die Hauptrichtung der Offensive, aber nicht die einzige. Die ukrainischen Angriffe bei Bachmut waren integraler Bestandteil der gleichen Bemühungen.
Saporischschja: Weitgehender Stillstand
Die Gegenoffensive im Süden blieb deutlich hinter den ursprünglichen Erwartungen sowohl der ukrainischen Seite als auch des Westens zurück. Auch wenn es nicht möglich ist, die ursprünglichen ukrainischen Pläne aus offenen Quellen zu rekonstruieren, so ist doch klar, dass sowohl die Gesellschaft als auch wesentliche Teile der politischen Elite hohe Erwartungen hatten.
Dazu gehörte die massenhafte Befreiung der besetzten Gebiete, möglicherweise sogar der Krim. Eine weitere, häufig geäußerte Hoffnung war die Unterbrechung der für Russland wichtigen logistischen Route, die durch die besetzte Region Saporischschja führt.
Keine dieser Hoffnungen konnte erfüllt werden, die meisten davon nicht einmal teilweise. Anstatt den größten Teil des besetzten Südens zu befreien, gelang es der Ukraine nur, einige Dörfer zurückzuerobern.
Die Tiefe der russischen Verteidigungsanlagen konnte nirgendwo durchbrochen werden. Offensichtlich blieb die Krim für die Bodenoperation unerreichbar: Nicht einmal die Stadt Tokmak konnte bisher zurückerobert werden, obwohl sie für die Bedrohung der wichtigsten russischen Ost-West-Nachschublinien von wesentlicher Bedeutung ist.
Anpassungsfähigkeit der Ukraine
Die Kämpfe in Richtung Saporischschja zeigten jedoch schnell die Fähigkeit der ukrainischen Armee, sich an die unvorhergesehenen Umstände anzupassen. Versuche, groß angelegte mechanisierte Operationen durchzuführen, wurden rasch aufgegeben, als ihre Undurchführbarkeit erkannt wurde.
Die Ukraine änderte ihre Taktik bereits zwei Wochen nach Beginn der Gegenoffensive und ging zu einem langsameren, methodischeren und auf Zermürbung basierenden Vorgehen über (im Gegensatz zu den Russen, die bereits seit fast einem Monat eine Angriffswelle nach der anderen gegen Awdijivka starten).
Zermürbung und Abnutzung Russlands erfolgreich
Was die Zermürbung und Abnutzung betrifft, so ist die ukrainische Gegenoffensive alles andere als ein Misserfolg. Die Kämpfe an der Saporischschja-Front und insbesondere die schweren Verluste durch die ukrainischen Präzisionsartillerieschläge zwangen Russland, hier selbst seine besten Einheiten einzusetzen und sie für den infanteristischen Grabenkrieg zu nutzen, wie die 76th Guards Air Assault Division.
Bachmut: Russland zurückgedrängt
Außerdem haben die ukrainischen Streitkräfte in Bakhmut wichtige Erfolge erzielt und die Russen aus den Gebieten nordwestlich und südwestlich der Stadt zurückgedrängt. Der Vormarsch geht weiter, wenn auch langsam, und zwingt Russland, immer mehr Truppen hier zu stationieren.
Andere Frontabschnitte: Ablenkung und Abwehr
Die am linken Ufer des Dnipro durchgeführten Angriffe sind von geringerer operativer Bedeutung; als Ablenkungsmanöver scheinen sie jedoch gut zu funktionieren.
Cherson weiter unter russischem Beschuss
Parallel dazu gelang es der Ukraine, die russische Offensive bei Kupjansk daran zu hindern, nennenswerte Gebiete zu erobern.
Schwarzes Meer: Russische Flotte zurückgedrängt
Die wichtigsten Erfolge der Ukraine wurden jedoch nicht an Land, sondern auf dem Meer erzielt. Das Getreideabkommen, offiziell die Schwarzmeer-Getreide-Initiative, funktionierte vom 22. Juli 2022 bis zum 17. Juli 2023. Nach der Aufkündigung durch Russland bestand die reale Gefahr, dass die Möglichkeiten der Ukraine, Getreide auf dem Seeweg zu exportieren, entscheidend schrumpfen würden, was massive wirtschaftliche Schäden für das Land zur Folge hätte.
Schwarzes Meer zunehmend Kriegsbrennpunkt
Seit Anfang August ist es der Ukraine jedoch gelungen, die russischen Seestreitkräfte aus dem westlichen Becken des Schwarzen Meeres zu verdrängen. Die Gasförderplattformen im Meer, die Russland als Radar- und Sensor-Plattformen nutzte, wurden befreit. Durch eine Reihe von Präzisionsangriffen mit Drohnen und Raketen wurden zwei große russische Überwasserkampfschiffe (zwei große Landungsschiffe der Ropucha-Klasse) und ein modernisiertes U-Boot der Kilo-Klasse schwer beschädigt und mehrere kleinere Schiffe beschädigt.
Getreideexporte wieder ermöglicht
Präzisionsangriffe trafen das Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte sowie mehrere Luftverteidigungsanlagen auf der Krim. Daraufhin stellten die Schiffe der Schwarzmeerflotte ihre Tätigkeit im westlichen Meeresbecken ein, so dass die Ukraine den Getreideexport auch von den großen Seehäfen in Odessa aus wieder aufnehmen konnte.
Alles in allem war die Gegenoffensive an der Saporischschja-Front wenig erfolgreich, während sie bei Bachmut viel besser verlief und die Ukraine darüber hinaus strategisch wichtige Gewinne im Schwarzen Meer erzielte. Die Behauptung, die Ukraine habe seit Juni 2023 nichts mehr erreicht und die letzten fünf Monate seien ein totaler Misserfolg für die Ukraine gewesen, entspricht also zum Glück nicht der Realität.
Das Aktionsbündnis Katastrophenhilfe hilft Menschen in der Ukraine und auf der Flucht. Gemeinsam sorgen die Organisationen Caritas international, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonie Katastrophenhilfe und UNICEF Deutschland für Unterkünfte und Waschmöglichkeiten, für Nahrungsmittel, Kleidung, Medikamente und andere Dinge des täglichen Bedarfs. Auch psychosoziale Hilfe für Kinder und traumatisierte Erwachsene ist ein wichtiger Bestandteil des Hilfsangebots.
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.