Direktor Orient-Institut: "Arabische Welt im Auge behalten"

    Interview

    Blick in die arabische Welt:Das ist der "perfide Plan" der Hamas

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    Nahostexperte Andreas Reinicke warnt: Der "perfide Plan" der Hamas sei es, "in den anderen arabischen Staaten die Bevölkerungen aufzuwiegeln".

    Hamas-Kämpfer stehen nahe der Grenze zu Israel im zentralen Gazastreifen, Juli 2023
    Die Hamas nutze gezielt die Macht der Bilder in Gaza für ihre Zwecke, sagt der Direktor des Orient-Institutes Andreas Reinicke in der ZDF-Sendung "Berlin direkt".15.10.2023 | 0:22 min
    Andreas Reinicke ist Direktor des Deutschen Orient-Institutes und ehemaliger deutscher Botschafter in Syrien und Tunesien. Darüber hinaus war er als EU-Sonderbeauftragter für den Friedensprozess im Nahen Osten tätig.
    ZDFheute: Die israelische Regierung will die Hamas für immer zerschlagen. Welche Gefahren birgt eine großangelegte Bodenoffensive?
    Andreas Reinicke: Die aktuelle Lage ist höchst komplex. Wir werden es jetzt mit einer Bodenoffensive zu tun haben, die sehr kompliziert sein wird. Die Hamas hat einen ganz perfiden Plan entwickelt. Diese furchtbaren Angriffe in Israel, mit diesen entsetzlichen Morden, sind nach meiner Überzeugung kalkuliert, in ihrer Wirkung natürlich in Israel und auch mit ihrer Wirkung nach außen.
    Man schätzt, dass 15.000 Hamas-Kämpfer unter Waffen sind. 1.500 sind in Israel gestorben, weitere 13.000 werden noch irgendwo sein. Es ist damit zu rechnen, dass natürlich auch die zu erwartende israelische Bodenoffensive mit entsprechenden Gegenmaßnahmen begleitet wird.
    Dazu kommt noch etwas anderes. Die Bilder, die in Gaza zu erwarten sind, von vielen tatsächlich unschuldigen Leuten, die mit Hamas überhaupt nichts zu tun haben wollen, werden um die ganze Welt gehen, vor allen Dingen um die arabische Welt.

    Der perfide Plan von Hamas ist, in den anderen arabischen Staaten die Bevölkerungen aufzuwiegeln.

    Andreas Reinicke

    Wir haben jetzt gesehen, dass die Staatslenker der arabischen Staaten kein großes Interesse an einer Eskalation haben. Zum ersten Mal hat die Arabische Liga eine Erklärung durch die Außenminister abgegeben, mit der diese Art von Angriff verurteilt worden ist. Das hat es vorher noch nie gegeben. Die Staaten, die Vereinigten Arabischen Emirate und die Saudis haben das verurteilt. Das gab es auch noch nie. Selbst der Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde Abbas hat es nicht öffentlich gemacht, aber er hat dafür gesorgt, dass es in der Westbank bisher keinen Aufstand gegeben hat.
    Aber wenn diese Bilder um die Welt gehen, um die arabische Welt, dann ist nicht sicher, was passieren wird. Das Kalkül der Hamas ist, dass durch diese Bilder die Massen aufstehen und damit die Regierungen zu einer Aktion zwingen. Ein furchtbarer Plan.
    ZDFheute: Vor den Terror-Angriffen gab es durchaus Annäherungen Israels an arabische Staaten. Saudi-Arabien hat die Gespräche jetzt gestoppt. Was bedeutet das?
    Reinicke: Die Hamas hat ein zweites Ziel erreicht. Auch das ist furchtbar zu sehen. Denn diese Annäherung zwischen Israel und den arabischen Staaten Sudan, Marokko, vor allem den Arabischen Emiraten und möglicherweise Saudi-Arabien, ist geschehen, ohne die Palästina-Frage zu lösen. Und das war bislang immer das Mantra auf der arabischen Seite.

    Mit den Terrorangriffen hat Hamas die Palästina-Frage wieder ganz nach oben auf die Tagesordnung der internationalen Politik gesetzt und es Saudi-Arabien unmöglich gemacht, auf absehbare Zeit einen solchen Vertrag zu schließen.

    Andreas Reinicke

    ZDFheute: Ist die Hamas überhaupt zu besiegen angesichts eines weit verzweigten Netzwerks?
    Reinicke: Ja, das ist eine sehr schwere Situation. Die Hamas hat mit diesen Terror-Angriffen alle diplomatischen Brücken hinter sich abgebrochen. Man kann sich nicht vorstellen, dass man mit einer solchen Gruppierung in irgendeiner Art und Weise ernsthaft verhandeln kann. Andererseits, wenn man sich den Gazastreifen anschaut, wird es sehr schwierig sein für Israel, Hamas tatsächlich auszuschalten.
    Wenn es so ist, wie es sich hier im Augenblick andeutet, dass Israel in den Norden von Gaza eindringt, sind dort vermutlich die wichtigsten Kommandozentralen der Hamas. Aber es liegt auf der Hand, dass es auch Kommandozentralen und andere Verstecke im Süden gibt. Hier wird Israel wahrscheinlich nicht eingreifen, denn man hat ja gerade die Bewohner von Gaza aufgefordert, dort hinzugehen. Und selbst wenn, wäre es unwahrscheinlich, dass man jeden erwischen wird. Irgendeinen Rest von Hamas wird es geben.
    Man darf auch nicht vergessen, dass es auch eine politische Führung von Hamas im Ausland gibt. Ismail Haniyya, der Auslandsführer der Hamas, sitzt in Doha, und er agiert auch dort noch. Dieses Ausschalten wird sehr schwierig sein.
    Angriff auf Israel (Karte Israel, Gazastreifen etc.)

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    ZDFheute: Welche Rolle kann die deutsche Außenpolitik überhaupt jetzt in dieser Lage spielen?
    Reinicke: Die Rolle der deutschen Außenpolitik, zusammen mit der Europäischen Union, muss sein, wieder in einen diplomatischen Prozess einzusteigen, und zwar einen sinnvollen diplomatischen Prozess. Wir sehen, dass Antony Blinken durch die arabischen Staaten fliegt, um mit den Staaten Kontakt aufzunehmen und zu gucken, ob man vielleicht eine Bodenoffensive verhindern, oder sie in irgendeiner Art und Weise eingrenzen kann. Das ist aber nur der erste Schritt.
    Dieses kann nicht nur eine Aufgabe der Amerikaner sein, sondern wir als Deutsche und Europäer sind in allererster Linie betroffen. Die Auswirkungen in unserer Nachbarregion treffen in allererster Linie uns. Ich glaube, wir müssen eine neue Initiative starten zusammen mit der Europäischen Union. Aber die Europäische Union kann das nicht allein, das wird man mit den Amerikanern zusammen machen müssen. Aber die deutsche Regierung muss jetzt schnell handeln. Der Deutsche Bundestag hat die Bundesregierung ja auch dazu aufgerufen.
    ZDFheute: Welche Rolle spielen Gespräche mit den arabischen Staaten?
    Reinicke: Der erste Schritt ist, dass man versucht, viele Kontakte mit arabischen Führern zu halten, mit arabischen Regierungen zu halten, und auch ihnen zuzuhören und zu hören, wie Sie die Lage einschätzen, und wie sie glauben, dass man diese Dinge in den Griff bekommen kann.

    Ob uns das gefällt oder nicht, wir müssen auch die arabische Welt im Auge behalten.

    Andreas Reinicke

    Ich glaube auch, dass wir in unseren öffentlichen Statements, die wir machen, auch immer die Emotionen und die Befindlichkeiten der arabischen Führung, der arabischen Völker, so ein bisschen mit im Blick haben sollen. Denn sie sind da, wo sie sind. Sie sind unsere Nachbarn, und wir werden auch in Zukunft mit ihnen leben müssen. Unsere Solidarität gilt Israel als angegriffenem Staat, da gibt es gar keinen Zweifel, und auch unsere Unterstützung gilt Israel.
    ZDFheute: Herr Dr. Reinicke, vielen Dank für das Gespräch.
    Das Interview führte Britta Spiekermann.

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    Mit dem Angriff der radikalislamischen Hamas auf Israel ist der Nahost-Konflikt eskaliert. Israel greift infolge der Terrorattacke Ziele im Gazastreifen an. Ein Rückblick.
    Demonstranten mit Plakaten, darunter eines mit der Geisel Noa Argamani
    Quelle: ZDF

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