Betroffener aus Jerusalem: "Die Regierung ist überfordert"
Interview
Betroffener Israeli berichtet:"Die Regierung ist überfordert"
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In Israel wird die Kritik an der Regierung lauter. Sie habe die Angriffe der Hamas nicht kommen sehen und zu spät reagiert. Uriel Kashi aus Jerusalem spricht von "Inkompetenz".
Viele Angaben zu Konflikthandlungen, Schäden und Totenzahlen in Gaza lassen sich nicht unabhängig überprüfen. So berichtet das ZDF über die Lage vor Ort - hier finden Sie Fragen und Antworten.
Uriel Kashi lebt in Jerusalem und arbeitet als deutschsprachiger Reiseleiter in ganz Israel, unter anderem für Gruppen der Bundeszentrale für politische Bildung. Er ist Historiker, hat Kontakte in die israelische Politik und kennt sich auch in den Palästinensergebieten aus.
Als die Sirenen Samstag früh heulten, suchte er mit Nachbarn Schutz im Keller. Inzwischen habe sich die Situation beruhigt. Neben der Sorge um Familie und Freunde im Süden des Landes werde in seinem Umfeld über das Versagen der Regierung gesprochen. Sie habe die Katastrophe nicht kommen sehen und viel zu spät reagiert.
ZDFheute: Wie ist die Situation jetzt in Jerusalem?
Uriel Kashi: Insgesamt sind wir sehr besorgt über die aktuellen Entwicklungen. Wir haben erfahren, dass es erneut Versuche von Terroristen aus dem Gazastreifen gab, ins Kernland Israels einzudringen. Seit Beginn des Krieges ist es der Hamas gelungen, über 100 Israelis, darunter sowohl Soldaten als auch ganze Familien mit kleinen Kindern, in den Gazastreifen zu entführen.
Die oberste Priorität der Regierung sollte jetzt sein, diese Menschen sicher nach Hause zu bringen. Doch das wird Zeit in Anspruch nehmen und sicherlich nicht von heute auf morgen geschehen.
Nach dem Beginn der schweren Angriffe durch die Hamas, wird noch immer auf israelischem Boden gekämpft. 08.10.2023 | 16:14 min
ZDFheute: Wird es ein langer Krieg?
Kashi: Eines der Hauptziele der israelischen Armee in den kommenden Tagen wird darin bestehen, die Infrastruktur der Hamas im Gazastreifen zu zerstören und die Verantwortlichen für die schrecklichen Ereignisse der letzten Tage zur Rechenschaft zu ziehen.
Die Hisbollah beobachtet vermutlich sehr genau, wie effektiv die Hamas im Süden operiert und wie Israel reagiert, um daraufhin zu entscheiden, ob sie selbst eingreifen wird. Es wäre eine verheerende Entwicklung, wenn wir zusätzlich in einen Zweifrontenkrieg verwickelt würden.
ZDFheute: Waren Sie überrascht von dem Angriff?
Kashi: Versuche von Hisbollah-Kämpfern, ins israelische Kernland einzudringen, sind uns schon länger bekannt. Bereits 2019 wurden fast fertige Tunnel an der israelisch-libanesischen Grenze entdeckt, die zum Glück rechtzeitig von den israelischen Sicherheitskräften zerstört werden konnten. Die Grenzbefestigung zum Gazastreifen, ein Milliardenprojekt, galt hingegen als äußerst sicher.
Dass es zu erneutem Raketenbeschuss kommen würde, war vorhersehbar. Doch eine derart erfolgreiche Infiltration durch über hundert Terroristen sowie deren kaltblütige Brutalität gegenüber Zivilisten – insbesondere gegen ältere Menschen, Frauen und Kinder – all das hat ein Ausmaß erreicht, das wir nicht erwartet hätten.
ZDFheute: Sind ihre Angehörigen und Freunde in Sicherheit?
Kashi: Der Sohn meiner Cousine ist 19 Jahre alt und dient als Soldat. Ursprünglich war er im Norden an der libanesischen Grenze stationiert, wurde nun jedoch in den Süden versetzt. Seine Mutter erhielt gestern einen Anruf von seinem Kommandanten, der ihr versicherte, dass es ihm gut geht.
Weiter gibt es keinen direkten Kontakt zu ihm, was eine große Sorge für uns darstellt. Zudem haben wir viele Verwandte im Süden, die einem massiven Raketenbeschuss ausgesetzt waren.
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ZDFheute: Wie blicken Sie auf die weitere Entwicklung?
Kashi: Ich bin grundsätzlich ein optimistischer Mensch, aber in dieser Situation muss ich ehrlich sagen, dass ich pessimistisch gestimmt bin. Das Vorgehen der Hamas und des islamischen Dschihad war derart grausam und menschenverachtend, dass es eine schnelle Reaktion Israels erfordert.
Das dient auch dazu, der Hisbollah im Norden und möglichen Terrorgruppen in der Westbank klarzumachen: Trotz der vielen innerpolitischen Diskussionen in Israel, der Proteste gegen die Regierung und des Widerstands vieler Soldaten gegen die Justizreform, ist Israel alles andere als schwach.
Es könnte sein, dass Bodentruppen eingesetzt werden, die nach langer Zeit wieder in den Gazastreifen eindringen, um die Infrastruktur der Hamas zu zerstören. Dabei geht es nicht um eine langfristige Besatzung oder die Eroberung des Gazastreifens. Aber es handelt sich unzweifelhaft um eine militärische Aktion, die einige Zeit andauern und leider weitere Opfer fordern wird.
ZDFheute: Viele Reservisten hatten während der Proteste gegen die Justizreform gedroht, ihren Dienst zu verweigern. War das jetzt ein Problem?
Kashi: Nein. Wenn man angegriffen wird, hält man zusammen. Ein aktuelles Thema, über das in den deutschen Medien noch nicht ausführlich berichtet wird, ist die Idee einer Notstandsregierung.
Sowohl Jair Lapid von der Zukunftspartei als auch der frühere Verteidigungsminister Benny Gantz von der Partei der nationalen Einheit haben bereits ihre Bereitschaft signalisiert, in dieser Krisensituation eine Notstandsregierung zusammen mit Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu bilden.
ZDFheute: Verschieben sich politische Gewichte – weg von rechtsreligiösen Kräften?
Kashi: Jair Lapid, der ehemalige Außenminister und zuletzt kurzzeitige Ministerpräsident, stellt als Bedingung, dass die rechtsradikalen Elemente der aktuellen Regierung ausscheiden müssten. Benny Gantz hingegen betont, dass das Wichtigste sei, einige kompetente Personen in der Regierung zu haben, die mit der aktuellen Situation umgehen können.
Die Terroristen, welche die Kibbutzim besetzt hielten, konnten dort stundenlang wüten und töten, bevor Sicherheitskräfte einschritten, um die israelischen Geiseln zu befreien. Es bedarf kompetenterer Strukturen und auch einer Überlegung für die Zeit nach dem Krieg: Wie könnte eine zukünftige Verwaltung des Gazastreifens aussehen? Und wie verhindert man, dass erneut solche fundamentalistischen Kräfte die Kontrolle übernehmen?
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von Britta Spiekermann
ZDFheute: In der Not also mit demokratischen Parteien?
Kashi: In diesem Fall geht es tatsächlich nicht nur darum, dass unsere Regierungsvertreter demokratisch agieren, sondern auch um ihre fachlichen Kompetenzen. Besonders besorgniserregend sind einige rechtsradikale Minister in der Regierung, wie Itamar Ben Gvir, der Minister für nationale Sicherheit, und Bezalel Smotrich, der als Finanzminister auch für die zivile Verwaltung der besetzten Gebiete im Westjordanland zuständig ist.
Diese Minister zeichnen sich nicht nur durch ihre extrem rechten politischen Ansichten aus, sondern insbesondere durch ihre Inkompetenz. Selbst Netanjahu scheint dieser Ansicht zu sein. Er lässt Ben Gvir an den Sitzungen des Sicherheitskabinetts nicht teilnehmen, offenbar weil er ihm misstraut.
Das Interview führte ZDF-Hauptstadt-Korrespondentin Britta Spiekermann.