KAS-Büroleiter im Westjordanland:"Kapitale Fehleinschätzung" Israels
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Steven Höfner lebt in Ramallah. Er fürchtet, dass sich die Lage verschärft, die Hamas rufe zu Angriffen auf. Israels Armee habe einen "kapitalen" Fehler gemacht.
Viele Angaben zu Konflikthandlungen, Schäden und Totenzahlen in Gaza lassen sich nicht unabhängig überprüfen. So berichtet das ZDF über die Lage vor Ort - hier finden Sie Fragen und Antworten.
Steven Höfner leitet seit 2020 das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) für die Palästinensischen Gebiete in Ramallah. Er lebt dort mit seiner Frau und seinen zwei Kindern. Teile des Westjordanlandes werden von der Palästinensischen Autonomiebehörde verwaltet. Auch hier gibt es immer wieder blutige Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und Israelis. Höfner hatte schon vor Wochen schwere Konflikte vorausgesagt.
ZDFheute: Wie ist die Lage in Ramallah? Auch für Sie persönlich?
Steven Höfner: Heute Morgen und den ganzen Vormittag über war eine gespenstische Ruhe in Ramallah und im gesamten Westjordanland. Es wurde ein Generalstreik ausgerufen, damit sind alle Geschäfte geschlossen, die Menschen bleiben zuhause. Man merkt, dass das, was rund um Gaza passiert ist, die Leute sehr beschäftigt.
Diese Ruhe ist sehr trügerisch. Die Hamas hat bereits gestern dazu aufgerufen, auch im Westjordanland Angriffe durchzuführen.
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Steven Höfner
Sie versucht, die Leute zu mobilisieren. Es gibt radikale Siedlergruppen, die gestern und heute ihre Präsenz gezeigt haben, deswegen ist davon auszugehen, dass es auch im Westjordanland die nächsten Tage sehr schwierig sein wird.
Wir fühlen uns in Ramallah noch einigermaßen sicher, weil die Kampfhandlungen oder Auseinandersetzungen im Westjordanland vor allem an den Punkten passieren werden, wo Checkpoints sind oder Siedlungen, also dort, wo Siedler oder Armeegruppen auf Palästinenser treffen können.
In Westjordanland sei die Lage nach Beginn der Hamas-Angriffe aus dem Gaza-Streifen bisher verhältnismäßig ruhig geblieben, sagt Steven Höfner im ZDF.08.10.2023 | 3:20 min
ZDFheute: Das Westjordanland wird von der palästinensischen Autonomiebehörde verwaltet. Hat sich Präsident Abbas geäußert zur Gewalt der Hamas?
Höfner: Präsident Abbas hat gestern eine Erklärung abgegeben, die ziemlich oberflächlich war. Er hat Israel die Schuld an der jetzigen Situation gegeben, er hat die Angriffe der Hamas nicht verurteilt, er hat sich aber auch nicht vollständig hinter die Hamas gestellt.
Das zeigt vor allem, dass die Fatah und die palästinensische Autonomiebehörde, die jeweils von Präsident Abbas angeführt werden, keine Strategie haben, um der Hamas etwas entgegenzusetzen.
Die Hamas profitiert von dieser Konfliktsituation. Ihr fliegen die Sympathien zu und die Fatah und Präsident Abbas werden als ohnmächtig angesehen, als nicht in der Lage, eine andere Vision aufzuzeigen.
Für Israel ist der Angriff der Hamas am Samstag ein 9/11-Moment. Nie zuvor starben so viele Zivilisten an einem Tag. Das Land und seine Menschen wurden völlig überrascht.08.10.2023
ZDFheute: Sie haben schon vor Wochen schwere Konflikte zwischen Palästinensern und Israelis vorhergesagt. Hat Sie der gestrige Angriff der Hamas überrascht?
Höfner: Dass es zu einer Konfrontation zwischen der Hamas und den israelischen Sicherheitskräften kommen könnte, hat mich nicht überrascht. Die Intensität dieses Angriffs und die Verfasstheit der israelischen Sicherheitskräfte an der Grenze zum Gazastreifen aber doch.
Aus israelischen Sicherheitskreisen hat man immer gehört, dass die Hamas kein Interesse habe, vom Gazastreifen aus in eine volle Konfrontation zu gehen, sondern eher im Westjordanland versuchen würde, zu zündeln.
Dass die Hamas jetzt doch bereit ist, die volle Konfrontation im Gazastreifen zu suchen, wohlwissend, welche Konsequenzen das jetzt für sie und für die Bevölkerung haben wird, das ist jetzt doch überraschend.
Mit dem Angriff der radikalislamischen Hamas auf Israel ist der Nahost-Konflikt eskaliert. Israel greift infolge der Terrorattacke Ziele im Gazastreifen an. Ein Rückblick.
ZDFheute: Welche Anzeichen gab es für eine Eskalation der Gewalt?
Höfner: Der Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis ist weit davon entfernt gewesen, gelöst zu sein. Die letzte große Konfrontation 2021 hat klargemacht, es wird zu einer weiteren Eskalation kommen, wenn sich nicht an den grundlegenden politischen Konfliktlinien etwas ändert.
Die Hamas ist weiterhin bestrebt, die Besatzung und die Blockade des Gazastreifens zu beenden. All die Gespräche, die in den letzten zwei Jahren dazu stattgefunden haben, haben eigentlich nicht zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen in den Palästinensergebieten geführt.
Insofern stand die Hamas auch immer wieder unter dem Druck noch radikalerer islamistischer Gruppen, in den Konflikt zu gehen. Überraschend ist, dass es mit Blick auf den Gazastreifen passiert und nicht im Westjordanland.
Seit Jahrzehnten stehen sich Israel und die Hamas als Feinde gegenüber. Doch ist es ein Konflikt, der nicht allein von diesen beiden Parteien ausgetragen wird. 08.10.2023 | 2:01 min
ZDFheute: Wie konnte es zu diesem Überraschungsangriff kommen?
Höfner: Da gibt es verschiedene Faktoren und es ist noch sehr früh, hier eine abschließende Analyse zu geben. Aber was man bereits gesehen hat, ist, dass die israelischen Sicherheitskräfte viele Brigaden vom Gazastreifen in das Westjordanland abgezogen hatten, weil dort der Konfliktherd schwer unter Kontrolle zu halten war.
Israelische Sicherheitskreise sind wohl auch nicht davon ausgegangen, dass der Konflikt aus dem Gazastreifen heraus beginnt.
Das ist eine kapitale Fehleinschätzung gewesen, die es innerhalb der israelischen Politik und Gesellschaft aufzuarbeiten gilt.
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Steven Höfner
Diesen Überraschungsmoment hat die Hamas sicherlich lange geplant. Das war keine Nacht- und Nebelaktion. Dazu kamen noch Täuschungsmanöver mit all ihren Äußerungen in den letzten Wochen und Monaten, wenn es darum ging, die Lokalwahlen durchzuführen, die Lebensbedingungen im Gazastreifen zu verbessern. Mit der jetzigen Eskalation ist sicher, dass sich die Lebensbedingungen nicht verbessern werden.
Sderot in Israel steht unter Beschuss. Regionalchef Liebstein soll versucht haben, die Stadt zu verteidigen. Jetzt ist der Mann, der an ein friedliches Miteinander glaubte, tot.
von Britta Spiekermann
ZDFheute: Sie leben seit drei Jahren in Ramallah. Es gibt jetzt auch Beschuss aus dem Libanon. Kommt es zu einem großen Krieg im Nahen Osten?
Höfner: Die Konsequenzen sind noch nicht absehbar, die Ereignisse von gestern sind auf jeden Fall eine neue Dimension, die es in dem Konflikt so noch nicht gab. Dass Hamas-Kämpfer in die Umgebung des Gazastreifens eingedrungen sind, Geiseln genommen haben in sehr hoher Zahl, das wird dazu führen, dass sich dieser Konflikt nicht in wenigen Tagen beruhigen wird.
Die Hamas setzt darauf, dass sie externe Unterstützung bekommt - vor allem durch die Hisbollah aus dem Südlibanon. Wir haben heute Morgen einige Artillerie-Geschosse aus dem Südlibanon fliegen sehen. Die Hisbollah ist in Stellung und es gibt die Befürchtung, dass, wenn es zu einem Bodentruppen-Einsatz der israelischen Armee im Gazastreifen kommt, die Hisbollah dann auch stärker in den Konflikt einsteigt.
Es ist schwer einzuschätzen, aber der Iran hat gute Kommunikationskanäle und unterstützt offen diese Gruppen. Das kann zu großen Konsequenzen führen.
ZDFheute: Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für Sie und Ihre Familie.
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