Russische Besatzung von Wuhledar kein strategischer Erfolg
Analyse
Russische Eroberung im Donbass:Wuhledar: Einnahme kein strategischer Erfolg
von Christian Mölling und András Rácz
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Die russische Belagerung von Wuhledar ist beendet, das ukrainische Militär hat sich zurückgezogen. Die Frontlinie wird deshalb aber nicht zusammenbrechen. Die Militäranalyse.
Die Stadt Wuhledar ist erobert - die ukrainischen Streitkräfte mussten Verluste hinnehmen und haben sich zurückgezogen.
Quelle: dpa
Am 30. September sind erste visuelle Beweise dafür aufgetaucht, dass russische Truppen ihre Flagge im Zentrum von Wuhledar aufstellen und sich frei in der Stadt bewegen konnten. Dies deutet darauf hin, dass die Kämpfe in der Siedlung eingestellt wurden, und dass sich die ukrainischen Verteidigungskräfte entweder zurückgezogen haben oder besiegt wurden.
Wuhledar seit 2015 an der Frontlinie
Wuhledar befindet sich seit 2015 an der Frontlinie in der Region Donezk, als die Ukraine mit pro-russischen Seperatisten um die Region kämpfte. Während die Lage zwischen 2015 und Februar 2022 relativ ruhig war, intensivierten sich die Kämpfe hier unmittelbar nach der russischen Invasion. Die russischen Streitkräfte haben Wuhledar seither praktisch ununterbrochen beschossen. Anfang 2023 begann die Belagerung.
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Die Stadt, in der vor der Invasion etwa 17.000 Menschen lebten, ist eine der klassischen Bergbaustädte der Ostukraine. Sie wurde um eine der größten Kohleminen der Ukraine herum gebaut. Die meisten Einwohner arbeiteten entweder in den Minen oder im Dienstleistungssektor in deren Umfeld. Wuhledar liegt auf einem Hochplateau und besteht größtenteils aus mehrstöckigen Betongebäuden. Es war eine natürliche Festung, die seit 2015 von der ukrainischen Armee weiter gesichert worden ist.
Russland gelingt überraschender Durchbruch
Seit Beginn der umfassenden Eskalation hatte Russland bereits zwei größere Versuche unternommen, die Stadt einzunehmen, doch beide endeten mit katastrophalen Verlusten. Im Sommer 2024 gelang es den russischen Truppen jedoch, sich der Stadt von Süden und Osten her allmählich zu nähern. Die Siedlung steht seit mehreren Monaten unter ständigem, intensivem täglichen Beschuss.
Die Situation spitzte sich zu, als die russische 5. Gardepanzerbrigade einen geschickten Überraschungsangriff westlich der Stadt startete und die ukrainischen Verteidigungsanlagen durchbrach. Dies führte dazu, dass Wuhledar bereits aus drei Richtungen eingekesselt war und russische Truppen von da an die volle Feuerkontrolle über alle in die Stadt führenden Straßen hatten. Dadurch wurde die Versorgungslage der verbliebenen Verteidiger kritisch, und die Gefahr einer vollständigen Einkreisung wurde immer greifbarer.
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Verteidiger konnten sich offensichtlich zurückziehen
Es ist noch unklar, ob, wann und wie genau es den verbliebenen ukrainischen Verteidigern gelungen ist, sich aus der Stadt zurückzuziehen. Den meisten von ihnen dürfte dies gelungen sein, wie selbst kremlnahe russische Militärblogger bestätigen.
Hätte es viele getötete oder gefangen genommene Verteidiger gegeben, würden russische Medienkanäle diese Bilder sicherlich zeigen und versuchen, sie zu verbreiten. Ziel wäre es, eine breitere moralische Wirkung auf die ukrainische Bevölkerung zu erhalten - aber bisher geschieht nichts dergleichen.
Quelle: DGAP
... leitet das Programm "Europas Zukunft" für die Bertelsmann Stiftung in Berlin. Er forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement. Für ZDFheute analysiert er regelmäßig die militärischen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt.
Quelle: DGAP
... ist Associate Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Er forscht und publiziert zu Streitkräften in Osteuropa und Russland und hybrider Kriegsführung.
Später Rückzug als Strategie der Ukrainer
Alles in allem scheint es so zu sein, dass die ukrainische Militärführung erneut die Entscheidung zum Rückzug im allerletzten Moment getroffen hat. Auf diese Weise konnten die Verteidiger beträchtliche russische Kräfte aufhalten und so den Druck auf andere Abschnitte der Frontlinie verringern. Dabei mussten sie unvermeidlich selbst erhebliche Verluste hinnehmen.
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Die Ukrainer haben dies in diesem Krieg bereits mehrfach getan, unter anderem bei Sewerodonezk und Lyssytschansk noch im Frühjahr 2022, danach bei Bachmut im Jahr 2023 und bei Awdijiwka Anfang 2024 usw.
Auch wenn einige dieser früheren Rückzüge oft kritisiert werden, weil sie zu spät erfolgten, ist das Muster dennoch klar: Die ukrainische Militärführung nutzt die Verteidigung von Städten regelmäßig als Mittel, um die russischen Streitkräfte so weit wie möglich zu verlangsamen und auszubluten. Das tut sie selbst dann, wenn dies die fast vollständige Zerstörung der betreffenden Siedlungen zur Folge hat.
Die ukrainische Führung vermeidet es jedoch stets, ihre Truppen absichtlich zu opfern, indem sie sie einkesseln lässt. Die einzige Ausnahme war Mariupol, wo die robuste Verteidigung in letzter Minute dazu diente, die Russen daran zu hindern, die ukrainischen Hauptstreitkräfte im Donbass einzukesseln.
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Taktischer Erfolg, aber keine gravierende Veränderung
Es ist sehr unwahrscheinlich, dass der Fall von Wuhledar zu einem Zusammenbruch der ukrainischen Verteidigungsanlagen im südlichen Teil des Donbass führen wird. Die in den Dörfern nördlich und westlich der Stadt errichteten Befestigungen sowie mehrere Seen und kleinere Bäche werden den russischen Vormarsch wahrscheinlich verlangsamen.
Sobald der Herbstregen einsetzt, werden sich die offenen Felder nördlich und westlich von Wuhledar schnell in Schlammmeere verwandeln, die ein schnelles Vorrücken unmöglich machen. Alles in allem wird der Fall von Wuhledar das operative Gleichgewicht wahrscheinlich nicht verändern, während er für Russland zweifellos einen taktischen Sieg bedeutet.
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