Gaza und Israel: Leben in einer zerbrechlichen Waffenruhe
Gazastreifen und Israel:Leben in einer zerbrechlichen Waffenruhe
von Alica Jung und Thomas Reichart
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Das Abkommen zur Waffenruhe in Gaza und der Freilassung der israelischen Geiseln ist fragil. An diesen vier Orten entscheidet sich mit, ob es hält.
Trotz Waffenruhe bleibt die Lage in Gaza, Israel und dem Westjordanland weiterhin angespannt.
Quelle: AFP
Es ist das erste Mal seit Monaten, dass sie nach Rafah zurückkommen können. Haitham Al Hamassy und sein Team vom Zivilschutz in Gaza versuchen, Menschen nach Luftangriffen zu bergen. Doch weil Israels Armee auch den Süden des Gazastreifens über Monate bombardierte, konnte niemand ihnen zur Hilfe kommen, ohne dabei selbst getroffen zu werden.
Gaza - schwierige Identifizierung der Toten
Das einzige, was sie unter den Trümmern jetzt noch finden werden, sind Tote. "Es gibt keine schwere Ausrüstung", sagt Haitham. "Wie Sie sehen, arbeiten die Teams des Zivilschutzes die ganze Zeit mit ihren bloßen Händen."
Nachdem die Hamas sich bereit erklärt hatte, weitere Geiseln freizulassen, hat Israel den Nordkorridor geöffnet. Seitdem sind Zehntausende auf dem Weg in ihre Dörfer und Städte.27.01.2025 | 1:44 min
Oft ist nicht mehr viel übrig von den Körpern: eine Hose, ein Knochen - jedes noch so kleine Teil wird zusammengesetzt, dokumentiert und könnte später helfen, den Toten zu identifizieren. Dass sie tot sind, sei ein beschämendes Verbrechen, sagt Haitham.
Wir wurden daran gehindert, die Gebiete zu betreten, in denen die israelischen Besatzungstruppen waren. Die Menschen sind verblutet.
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Haitham Al Hamassy, Zivilschutz Gaza
Fast 100 seiner Kollegen vom Zivilschutz sind während des Krieges bei der Arbeit getötet worden. Er selbst hatte immer wieder Angst - und doch sagt Haitham: "Ich liebe humanitäre Arbeit, und als Muslim, wie es im Koran heißt: 'Wer ein Leben rettet, ist wie jemand, der die ganze Menschheit rettet.'"
Tel Aviv, Israel - Sorge um Geiseln
In Tel Aviv bringt die Sorge um die Angehörigen, um die von der Hamas verschleppten Geiseln, die Menschen zusammen auf den Platz der Geiseln.
Cherut Nimrodi bangt um ihren Sohn Tamir. Sie freue sich für die Familien, die ihre Angehörigen nun wiedersehen, sagt:
Mein Sohn ist nicht in der ersten Phase. Und ich habe Angst vor seiner Situation und davor, ob er überleben wird.
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Cherut Nimrodi, Mutter einer israelischen Geisel
Im Waffenruhe-Abkommen hat die radikalislamische Hamas vier weitere Geiseln freigelassen. Israel entließ im Gegenzug 200 Palästinenser aus der Haft.25.01.2025 | 1:34 min
Sie wird den Morgen des 7. Oktober nie vergessen, die Nachricht ihres Sohnes: "Es war 6.49 Uhr, er hatte keine Ahnung, dass Hamas-Terroristen bereits in seinem Stützpunkt waren", erzählt sie. "Ich bat ihn, gut auf sich aufzupassen und mir zu schreiben, wann immer er kann. Und das waren die letzten Worte zwischen uns."
Kurz darauf sieht sie Bilder ihres Sohnes im Netz. Verängstigt, zusammengekauert. Es sind die letzten Lebenszeichen von ihm. Seitdem wartet sie und hofft, dass der Waffenstillstand hält.
Doch ihre Sorge ist, dass die eigene Regierung das Abkommen torpedieren könnte. Die Rechtsextremisten in Netanyahus Koalition fordern, nicht weiter zu verhandeln, den Krieg schnell fortzusetzen. Tamir käme dann nicht frei.
Die Terrororganisation Hamas hat acht Geiseln freigelassen, darunter zwei mit deutscher und israelischer Staatsangehörigkeit. Die Freilassung war von chaotischen Szenen begleitet.30.01.2025 | 1:34 min
Ramallah, Westjordanland - Warten auf Gefangene
In Ramallah warten am vergangenen Wochenende hunderte auf den Straßen. 200 palästinensische Gefangene sollen an diesem Tag freikommen. "Ich glaube, sie sind Widerstandskämpfer, die so viel für die Befreiung Palästinas ertragen haben", sagt Duha Aldweik. Die junge Frau glaubt, die Gefangenen hätten ihr ganzes Leben gegeben, um die palästinensische Würde wiederherzustellen.
Die Zahl der Palästinenser in israelischer Haft hat sich seit dem Krieg verdoppelt, auf fast 10.000 Menschen. Zu Beginn kamen jetzt vor allem Frauen und Minderjährige frei, die ohne Anklage im Gefängnis waren - wie die palästinensische Abgeordnete Khalida Jarrar. Fünf Mal saß sie in israelischer Haft, ohne dass man ihr eine Gewalttat nachweisen konnte.
An diesem Tag sind verurteilte Attentäter und Bombenleger unter den Freigelassenen, die israelische Zivilisten getötet haben. Wie Badieaa Shoubakis Bruder - verurteilt wegen Beteiligung an Terrorakten gegen Israelis.
Er war 22 Jahre lang im Gefängnis. Nach Gottes Willen wird er heute durch das Abkommen befreit.
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Badieaa Shoubaki, Angehörige eines palästinensischen Gefangenen
In Ramallah werden sie bei ihrer Ankunft wie Helden gefeiert - Israel nennt sie Mörder mit Blut an den Händen.
Seitdem Israel den Korridor geöffnet hat, kehren geflüchtete Palästinenser in den Norden Gazas zurück. Sie suchen nach ihren Häusern, auf den Straßen feiern bereits Hamas-Kämpfer.28.01.2025 | 2:26 min
Kdumim, Westjordanland - Grauen des Terrors
Von seinem Garten in Kdumim kann Jakov Cohen hinüber schauen nach Al Funduq, wo Anfang Januar seine Frau Rahel ermordet wurde.
Die Kamera eines vorbeifahrenden Buses zeichnete auf, was geschah: Palästinensische Terroristen springen aus einem Auto. Feuern auf den Wagen, in dem Rahel mit einer Freundin sitzt.
Den Tod seiner Frau versucht Jakov Cohen zu deuten als Teil einer größeren Auseinandersetzung - zwischen israelischen Siedlern und Palästinensern:
Wir sind im Krieg. Und wir werden uns durch nichts aufhalten lassen.
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Jakov Cohen, israelischer Siedler im Westjordanland
"Wir werden stattdessen damit beginnen, eine weitere Siedlung zu errichten zum Gedenken an die sechs Menschen, die in Funduq gefallen sind." Er sagt tatsächlich gefallen - wie in einem Krieg.
Unter der Regierung von Benjamin Netanjahu wurde die Landnahme im Westjordanland, der Bau neuer Siedlungen massiv ausgeweitet. Obwohl das nach internationalem Recht illegal ist. Im Schatten des Gaza-Krieges wuchsen so die Spannungen.
In Gaza, in Israel, im Westjordanland - überall merkt man, wie leicht der Krieg wieder aufflammen könnte. Andererseits: Die Waffenruhe hält bislang. Immerhin schon fast zwei Wochen lang.
Mit dem Hamas-Angriff auf Israel ist der Nahost-Konflikt eskaliert. Anfang des Jahres 2025 konnte eine Waffenruhe vereinbart werden. News und Hintergründe im Liveblog.