Gefühlte Nachrichtenflut: Rauben die Krisen uns unsere Zeit?

Von Eilmeldung zu Eilmeldung:Raubt uns das Weltgeschehen unsere Zeit?

von Julian Vulturius
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Die nächste Eilmeldung kommt bestimmt: Seit der Trump-Wahl und dem Ampel-Aus ist die Nachrichtenwelt aufgewühlt. Ein Forscher gibt Antworten, wie das unser Zeitempfinden verändert.

Berlin: Friedrich Merz, CDU-Bundesvorsitzender und CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender im Bundestag, blickt nach der Abstimmung über das "Zustrombegrenzungsgesetz" der Union zur Eindämmung der Migration im Bundestag auf die Uhr.
Wer hat an der Uhr gedreht? CDU-Chef Friedrich Merz und die Welt scheinen zuletzt mit einer besonders großen Nachrichtenflut konfrontiert zu sein. Was macht das mit unserem Zeitempfinden?
Quelle: dpa

Fünf Monate sind mittlerweile vergangen, seit Donald Trump in der Nacht zum 6. November 2024 die US-Wahl gewann und wenige Stunden später die Berliner Ampel-Koalition zerbrach.
Die Zeit seit diesem Mittwoch im Herbst erscheint schon dann dicht gefüllt, wenn man sich auf Deutschland beschränkt und den Blick hinter die jüngsten Diskussionen über das Mitte März beschlossene milliardenschwere Finanzpaket wagt. Weit weg scheinen der Bundestagswahlkampf und seine Themen: das D-Day-Papier der FDP, die Anschläge in Magdeburg und Aschaffenburg, zwei Bundestagsanträge der CDU zur Migrationspolitik, von denen einer durch die AfD eine Mehrheit erhielt - erstmals.
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Es ist eine Zeit, deren Geschwindigkeit politischer Veränderungen viele mit einem Gefühl zurücklässt: Die Welt, sie scheint sich noch schneller zu drehen, als sie es schon vorher tat. An Eilmeldungen, die auf dem Handy aufblinken und historische Zäsuren aus Washington oder Berlin vermelden, hat man sich in den letzten Monaten fast schon gewöhnt.
Trotzdem bleibt ein Tag ein Tag, eine Woche eine Woche. Kein Sekundenzeiger tickt wegen der Nachrichtenflut schneller. Aber ändert sich durch die vielen Krisen und Umbrüche unser Empfinden von Zeit?

Was beeinflusst unsere Zeitwahrnehmung?

"Mit einem einfachen Ja oder Nein lässt sich diese Frage nicht beantworten", sagt Zeitforscher Marc Wittmann. Der Psychologe und Humanbiologe forscht seit vielen Jahren zum subjektiven Zeitempfinden von Menschen.

Menschen nehmen Zeit immer in zwei Dimensionen wahr: einerseits als unmittelbares Gefühl für das, was ich in genau diesem Moment erlebe. Und andererseits als Gefühl, das ich beim Blick zurück habe. Dann geht es um die Frage, wie schnell ein Zeitraum in meiner Wahrnehmung vergangen ist.

Marc Wittmann, Zeitforscher

Ein Porträtbild von Zeitforscher Marc Wittmann
Dr. Marc Wittmann (*1966) ist Psychologe und Humanbiologe. Am Freiburger Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene forscht Wittmann zu Zeitwahrnehmung und Zeitbewusstsein von Menschen. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie Menschen zu ihrem subjektiven Zeitgefühl kommen – also ob wir das Vergehen von Zeit als langsam oder als schnell empfinden.


Das unmittelbare Zeitempfinden hänge dabei von unserer Körperwahrnehmung ab, erklärt Wittmann an einem Beispiel: Wer mit Hunger auf den Bus wartet, nimmt die Zeit besonders bewusst wahr - sie scheint sich zu dehnen. "Bin ich beim Warten hingegen in ein tolles Gespräch mit einem Freund vertieft, achte ich nicht auf die Zeit, und sie vergeht schnell."
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Anders ist es, wenn es um das eigene Zeitgefühl beim Blick zurück geht:

Beim eigenen Empfinden vergangener Zeit geht es darum, was ich selbst in diesem Zeitraum erlebt habe. Je mehr emotionalen Gehalt diese Dinge haben, desto langsamer scheint die Zeit rückblickend vergangen zu sein.

Marc Wittmann, Zeitforscher

Das können beispielsweise tiefgreifende familiäre Veränderungen sein, wie die Geburt eines Kindes oder ein schmerzhafter Abschied. Aber was passiert mit unserem Zeitgefühl, wenn keine Woche ohne einen neuen Aufreger der Trump-Regierung aus Washington zu vergehen scheint?

Eine paradoxe Situation

"Momentan hat das Verhältnis von der Nachrichtenlage zu unserem Zeitempfinden etwas Paradoxes", sagt Wittmann. Wir seien nicht gewohnt, dass Ereignisse so schnell hintereinander passieren - und auch so eindrücklich in Bildern festgehalten werden, wie es beispielswiese bei dem Eklat zwischen Trump und Selenskyj im Weißen Haus der Fall war.

Diese Dichte an Ereignissen ist ungewohnt und daraus kann das Gefühl entstehen, dass gerade vieles schneller passiert als sonst.

Marc Wittmann, Zeitforscher

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Dieses akute Empfinden müsse man aber von dem unterscheiden, was der oder die Einzelne autobiografisch in so einer Zeit erlebt, sagt Wittmann:

Politisch turbulente Zeiten beeinflussen das Zeitempfinden von Menschen vor allem dann, wenn sie persönlich von den Geschehnissen betroffen sind und die Ereignisse damit auch emotional eine Wirkung entfalten.

Marc Wittmann, Zeitforscher

Durch solche einschneidenden Erlebnisse werde die vergangene Zeit langsamer wahrgenommen. Das könne beispielsweise der Fall sein, wenn Menschen "krisenbedingt ihren Arbeitsplatz verlieren oder sich durch politische Entscheidungen direkt ihre Lebensrealität ändert", erläutert Wittmann.
Wenn also wieder eine politische Neuigkeit nach der anderen auf uns einprasselt, dann fühlt sich das zwar ungewohnt an. Im Rückblick wird für viele die Zeit dadurch trotzdem nicht schneller vergangen sein - und für alle, die durch politische Entscheidungen emotional betroffen sind, kann sie sogar länger anfühlen. Warum kann man trotzdem das Gefühl haben, die Welt dreht sich schneller?
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Gefühlt vergeht die Zeit im Alter schneller

"Je älter wir werden, desto schneller scheint für uns die Zeit zu vergehen", sagt Wittmann. Mit einer Kollegin konnte der Zeitforscher diesen Zusammenhang bereits 2005 in einer Studie nachweisen, für die knapp 500 Menschen zwischen 14 und 94 befragt worden. Weitere Untersuchungen hätten dieses Ergebnis in den Folgejahren bestätigt, sagt Wittmann. Zwar sei der Effekt relativ klein, räumt der Forscher ein. Im Bezug auf die letzten zehn Jahre vor dem Befragungszeitpunkt sei er jedoch am Größten:

Dieser Zeitraum verging gefühlt schneller, je älter die Befragten waren.

Marc Wittmann, Zeitforscher

Völlig hilflos ist man demgegenüber aber nicht, erklärt Wittmann. Er rät gegen das Gefühl, dass einem die Zeit davon läuft, eigene Routinen zu prüfen. Diese "geben Sicherheit und sind wichtig", sie dürften aber nicht überhandnehmen.

Man sollte sich stattdessen immer wieder neu positionieren und offen für Neues bleiben.

Marc Wittmann, Zeitforscher

Das könnten Veränderungen im Alltag sein, aber auch der Aufbau neuer Kontakte oder die Entscheidung für ein anderes Urlaubsziel in den vergangenen Jahren, sagt der Zeitforscher. Das Zeitgefühl - man hat es also ein Stück weit in der eigenen Hand.

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Quelle: dpa

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