"Geht darum, wer raffinierter ist": So will Kiew gewinnen

    Gegenoffensive der Ukraine:So will Kiew die Oberhand gewinnen

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    Zermürben und überlisten - das sind zentrale Bestandteile von Kiews Strategie. Doch Russland verteidigt sich vehement - die Gegenoffensive kommt nur langsam voran. Warum?

    Ukrainische Streitkräfte während ihres Schießtrainings mit schweren Waffen in Gebieten nahe der Frontlinie in Saporischschja.
    Ukrainische Streitkräfte während ihres Schießtrainings mit schweren Waffen in Gebieten nahe der Frontlinie in Saporischschja.
    Quelle: ddp images

    Der Angriff war bereits dreimal aufgeschoben worden. Schließlich sahen die ukrainischen Kommandeure ein günstiges Zeitfenster. Im Schutze der Nacht rückten Soldaten der 129. Brigade auf die offenbar nichts ahnenden Gegner in Neskutschne vor. Als die dort stationierten Russen merkten, was los war, hatten sie kaum noch eine Chance. Der Geländegewinn mag überschaubar gewesen sein. Und doch war die Aktion für Kiew ein wichtiger Erfolg.
    So steht's um die Gegenoffensive:

    Kleine Einheiten setzen auf Überraschungsmoment

    Die Rückeroberung des Dorfes in der Region Donezk am 10. Juni gibt einen Einblick in die Strategie der Ukraine in der Anfangsphase ihrer vor wenigen Wochen gestarteten Gegenoffensive. Kleinere Einheiten setzen auf den Überraschungsmoment und arbeiten sich Schritt für Schritt voran. Entlang der etwa 1.500 Kilometer langen Front versuchen die Ukrainer mit Vorstößen wie dem in Neskutschne, bessere Rahmenbedingungen für eine wohl noch bevorstehende größere Initiative zu schaffen.
    Eine mögliche Strategie wäre die, das russisch besetzte Gebiet zunächst in zwei Teile zu teilen und dabei die bereits 2014 von Moskau illegal annektierte Halbinsel Krim zu isolieren. Moralischen Auftrieb erhielten die ukrainischen Truppen am vergangenen Wochenende durch den Aufstand der Wagner-Söldner.
    Die Auswirkungen auf die Lage an der Front in der Ukraine sind bisher offenbar gering. An den meisten Abschnitten der Front scheinen die russischen Abwehrstellungen aber weiterhin sehr stark zu sein.

    Nur noch vier Monate bis zum Herbst

    Ob die Ukrainer zum jetzigen Zeitpunkt schon auf entscheidende Durchbrüche hoffen, ist unklar. Allzu viel Zeit haben sie jedoch nicht: Bis zum Herbst, in dem das Gelände für größere Vorstöße wieder zu matschig werden könnte, bleiben nur etwa vier Monate.

    Obwohl die ukrainischen Truppen kleine und stetige Fortschritte erzielen, verfügen sie noch nicht über die operative Initiative. Das heißt, sie bestimmen nicht das Tempo und die Bedingungen des Geschehens.

    Dylan Lee Lehrke, Sicherheitsexperte

    Einige Beobachter würden deswegen behaupten, die Gegenoffensive bleibe hinter den Erwartungen zurück, sagt Dylan Lee Lehrke, Experte der britischen Sicherheitsinformationsfirma Janes. Aber ein so schnelles Vorrücken wie im Herbst in der Region Charkiw sei nicht realistisch gewesen, denn "die russischen Truppen hatten zu viel Zeit, ihre Befestigungen vorzubereiten".
    Ukrainischer Erfolg bei Charkiw:

    In vielen Regionen toben die Kämpfe

    Die Kämpfe toben jedenfalls in vielen Gebieten des Landes. In der südlichen Region Cherson hat die Zerstörung des Kachowka-Staudamms den Ukrainern offenbar etwas mehr Bewegungsfreiheit verschafft. Nach Angaben russischer Militärblogger rücken kleine Gruppen von ukrainischen Kämpfern in der Nähe des Flusses Dnipro vor, was von Kiew bisher jedoch nicht bestätigt wurde.
    Auch in der Region Saporischschja haben die Ukrainer einige Erfolge gemeldet. Sollte es ihnen gelingen, dort wieder einen Zugang zum Asowschen Meer herzustellen, würden sie damit die russische Landverbindung zur Krim kappen.

    Noch weiter von Verteidigungslinien entfernt

    Laut Experten sind die Ukrainer in den meisten Gebieten allerdings noch mehrere Kilometer von den eigentlichen Verteidigungslinien der Russen entfernt. Und mit jedem weiteren Vordringen steigt für sie auch die Gefahr durch russische Angriffe aus der Luft.
    Experte zur Taktik der Ukraine:
    Im Nordosten haben die Russen offensive Operationen in einem Waldgebiet nahe der Stadt Kreminna verstärkt. Dabei gehe es zunächst einmal darum, eine Pufferzone zur Absicherung von russischen Versorgungswegen zu schaffen, sagt Lehrke. Womöglich verfolge Moskau dort aber noch ein weiteres Ziel - nämlich die Entsendung von weiteren ukrainischen Truppen in dieses Gebiet zu erzwingen.

    Ukrainischer Kommandeur: "Geht darum, wer raffinierter ist"

    Der in der Nähe von Bachmut eingesetzte Kommandeur Wolodymyr Silenko schert sich wenig um Kritik am Tempo der Gegenoffensive. Ein Krieg sei kein Wettkampf der rohen Gewalt, bei dem es nur auf die verfügbare Menge an Waffen und Soldaten ankomme. "Es geht vielmehr darum, wer raffinierter ist", sagt der Ukrainer. Er wisse, dass seine Leute von den Russen beobachtet würden, genau wie er die Russen beobachte.

    Unsere Aufgabe ist es, sie auszutricksen.

    Wolodymyr Silenko, ukrainischer Kommandeur

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    Auf dem Bild sieht man ukrainische Soldaten von hinten.
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    Quelle: Von Samya Kullab, AP

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