Militärexperte: Wie kritisch die Lage für die Ukraine ist
Militärexperte im Interview:Wie kritisch die Lage für die Ukraine ist
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Die Ukraine brauche dringend Munition, so Militärexperte Reisner. Russland könne sonst womöglich bis zum Fluss Dnipro durchstoßen. Jetzt komme es auf das Geschick einer Person an.
Wie kann die Ukraine Russlands Vorstoß aufhalten? ZDFheute live mit Oberst Markus Reisner.29.02.2024 | 33:57 min
Knapp zwei Wochen nach der russischen Eroberung von Awdijiwka im Osten der Ukraine finden weiter harte Kämpfe an der Ostfront statt. Seitdem rücken die russischen Truppen in der Region weiter vor und die ukrainische Armee hat Probleme dabei, die westliche Front der Stadt zu stabilisieren.
Die Situation für die Ukraine sei kritisch, schätzt Oberst Markus Reisner von der Militärakademie in Wien die Lage ein. "Russland greift mit seinen Truppen an mehreren Stellen gleichzeitig an, insgesamt an 17 Stellen. Es gibt fünf Hauptstoßrichtungen." Russland habe "langsam aber stetig" Geländegewinne zu verzeichnen, sagt er bei ZDFheute live.
Quelle: ZDF
... Jahrgang 1978, ist Militäranalytiker, Historiker und selbst aktiver Soldat beim österreichischen Bundesheer. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges analysiert Reisner die Lage in der Ukraine und leitet seit September die Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wien. (Quelle: Kral-Verlag)
Russland könnte bis zum Dnipro durchstoßen
In russischen Sozialen Netzwerken werde bereits das Konzept der "Tiefen-Operation" diskutiert, das aus der Zeit der Sowjetunion stammt. Es habe im Kern die Überlegung, dass Verteidigungsstellungen durchbrochen werden und - im Falle Russlands in der Ukraine - bis zum Dnipro durchgestoßen werde, erklärt Reisner.
Aufgrund des Munitionsmangels sei die Ukraine gezwungen, langsam zurückzugehen und vielleicht nicht mehr in der Lage, sich "Schulter an Schulter einzuhaken". Dadurch könne eine Lücke entstehen, die Russland ausnutzen könne. Die Front könne dann am Dnipro zum Erliegen kommen, weil der Fluss ein breites Gewässer ist, das schwer zu überwinden sei.
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Reisner: Ukraine braucht vor allem Artilleriemunition
Tschechien sammelt derzeit finanzielle Unterstützer für das Vorhaben, rund 800.000 Schuss Artilleriemunition an die Ukraine zu liefern. Das könnte in der aktuellen Situation helfen: "Die Ukraine braucht unmittelbar sofort Munition", so Reisner. "Sie braucht vor allem Artilleriemunition, um zu verhindern, dass die russische Seite Artillerie zusammenführen kann und massiert gegen die ukrainischen Stellungen einsetzen kann."
Hintergründig blicken wir mit Experten auf Militärpolitik, Verteidigungsstrategien und Machtverhältnisse. Wir setzen aktuelle Kriege wie in der Ukraine oder Nahost in den Kontext.
Das Dilemma: Russland habe eine hohe Produktionsrate erreicht, man gehe von 2,5 bis 5 Millionen Artilleriegranaten aus, die allein dieses Jahr produziert werden. Hinzu kämen bereits gelieferte Artilleriegranaten aus Nordkorea.
Die EU hingegen hat bis jetzt nur 300.000 von einer Million zugesagten Artilleriegranaten an die Ukraine geliefert. Die Zahlen geben einen Eindruck davon, wie viel Munition an der Front ankomme. "Und das ist natürlich zu wenig, um tatsächlich diesen massierten Angriffen der Russen etwas entgegenzuhalten", so das Urteil des Experten.
Die Ukraine versuche die Welt davon zu überzeugen, dass die Situation eine kritische ist. Dabei sei unklar, wie viele Munition-Reserven das Land noch hat. "Das ist natürlich ein Geheimnis, weil man daraus ableiten kann von russischer Seite, wie lange sie durchhalten können."
Auf Initiative Tschechiens werden jetzt weltweit Munition und Ausrüstung gekauft, um sie der Ukraine zur Verfügung zu stellen.28.02.2024 | 1:33 min
Welche Ressourcen für Russland im Einsatz sind
"Die russischen Streitkräfte erleiden nach wie vor hohe Verluste", so der Experte, doch nach zwei Jahren Krieg müsse auch klar sein, dass für Russland offensichtlich humane Ressourcen keine Rolle spielen. 500.000 Mann seien im Einsatz in der Ukraine, hinzu kämen:
ca. 3.000 Kampfpanzer
7.000 Kampfschützenpanzer
5.000 Artilleriesysteme
1.200 Raketenwerfer
300 Hubschrauber
300 Kampfflugzeuge
Allein die Zahl der Soldaten sei zweieinhalbmal so hoch wie 2022 beim Einmarsch in die Ukraine.
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Oberbefehlshaber Syrskyj entscheidend
Es komme nun auf das Geschick des ukrainischen Oberbefehlshabers, Olexander Syrskyj, an. "Es ist jetzt seine militärische Fähigkeit, die entscheidend ist, ob er es schafft quasi auf operativer Ebene, entsprechende Reserven bereitzustellen", sagt Reisner. Dazu müsse er sich einer Bandbreite an Elementen bedienen, vor allem aus logistischer Sicht - zum Beispiel die richtige Munitionssorte an die richtige Stelle bringen.
Das geschehe auch in der Hoffnung, dass weitere Munitionssorten aus dem Ausland geliefert werden.
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.