Ukrainerinnen und Menschenhandel:Wenn die Flucht im Bordell endet
von Katja Belousova, Christopher Bobyn, Bella Khadartseva, Markus Reichert
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Was wurde aus den Warnungen vor Menschenhändlern, die die Situation geflüchteter Ukrainerinnen ausnutzen wollen? ZDF frontal hat recherchiert - unter anderem in Bordellen.
Seit Kriegsbeginn sind bereits etwa eine Million Geflüchtete aus der Ukraine nach Deutschland gekommen, vorwiegend Frauen. Ihre Notlage machen sich leider auch Kriminelle zunutze.05.09.2023 | 9:14 min
Als im Frühjahr 2022 Hunderttausende Ukrainerinnen ihre Heimat aufgrund des Kriegs verließen, hatten sie vor allem ein Ziel: sich in Sicherheit zu bringen.
Doch schon kurz nach ihrer Ankunft in Deutschland sahen sich viele der Frauen mit einem neuen Sicherheitsproblem konfrontiert. Schnell verbreiteten sich Meldungen von Menschenhändlern, die die Lage der Ukrainerinnen ausnutzen wollten - und von dubiosen Angeboten, die vor allem auf eines zielten: Wohnung gegen Sex.
Mehr als ein Jahr später hat sich ZDF frontal unter anderem in Bordellen umgehört: Was wurde aus den Angeboten? Und wie viele Frauen sind tatsächlich im Menschenhandel gelandet?
Mehr als eine Million Ukrainer sind seit dem Angriffskrieg Russlands gegen ihr Land nach Deutschland geflüchtet. Knapp die Hälfte von ihnen will laut einer Studie hierbleiben.18.07.2023 | 9:11 min
Mit welchen Problemen ukrainische Frauen auf dem deutschen Jobmarkt zu kämpfen haben:
Mehr Anfragen nach Sex-Diensten von Ukrainerinnen
"Wir wissen, dass Google-Suchen nach Sex-Diensten ukrainischer Frauen und Mädchen in die Höhe geschossen sind", erklärt Andrea Salvoni, Experte für Menschenhandel bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).
Diese Sorgen waren schon zu Beginn der Fluchtbewegung spürbar. Auf Bahnhöfen und in Flüchtlingsunterkünften warnten Mitarbeitende und Freiwillige die Frauen im Frühjahr 2022 immer wieder vor Menschenhändlern. "Gebt niemandem euren Pass", lautete die Ansage. Online und offline wurden Flyer mit der Überschrift geteilt: "Wie Sie vermeiden können, in anderen Ländern Opfer von Menschenhandel zu werden."
Seit Kriegsbeginn sind bereits etwa eine Million Geflüchtete aus der Ukraine nach Deutschland gekommen, vorwiegend Frauen. Ihre Notlage machen sich leider auch Kriminelle zunutze.05.09.2023 | 9:14 min
Die Notlage der ukrainischen Frauen machen sich auch Menschen zunutze.
Berichte über sexuelle Belästigung
Welche Nachrichten und Angebote die Frauen nach ihrer Ankunft bekamen, weiß Natalia Oliferovych, Kunststudentin aus Kiew: Sie selbst wurde in eine Wohnung gelockt und zum Sex aufgefordert. Nach dieser Erfahrung gründete sie im Mai dieses Jahres eine Website für Ukrainerinnen, die anonym ihre Missbrauchserfahrungen veröffentlichen.
In der ersten Woche waren es gleich 20. "Als ich das alles gelesen habe, dachte ich: Was bitte ist hier los?", erinnert sich die Ukrainerin, die heute in Leipzig lebt. "Stell dir vor, dein Mann kämpft gerade in der Ukraine und du erlebst sowas", sagt sie.
Deutschland habe ukrainische Flüchtlinge finanziell gut aufgefangen, erzählt sie. Aber es fehle an emotionaler Unterstützung.
Angelockt und ausgebeutet18.04.2023 | 9:11 min
Wie ausländische Arbeitskräfte in Deutschland in die Hände von Menschenhändlern gelangen:
Hilfsorganisation: Mehr Ukrainerinnen in der Sexarbeit
Die Erfahrungen anderer geflüchteter Ukrainerinnen in Deutschland reichen weit über sexuelle Belästigung hinaus. "Wir machen aufsuchende Arbeit in Bordellen. Und als wir dann da drin waren, waren wir erstaunt, dass fast ausschließlich Frauen aus der Ukraine drin waren", erzählt Gerhard Schönborn von der Hilfsorganisation Neustart. Er betreut Prostituierte in Berlin und beobachtet einen klaren Trend.
Geflüchtete Frauen in Ausnahmesituationen
Auch ZDF frontal recherchierte vor Ort, besuchte undercover Sex- und Erotikbetriebe - und traf auf viele Ukrainerinnen. Eine 35-jährige Frau erzählte im Gespräch, dass sie erst vor zwei Monaten aus Cherson nach Deutschland geflohen sei. Nun müsste sie ihren ausgebombten Eltern eine Wohnung in Kiew finanzieren. Eine andere berichtet, sie sei an der Bürokratie des Jobcenters gescheitert - jetzt brauche sie dringend Geld.
In sieben von zehn Betrieben traf ZDF frontal auf Ukrainerinnen. Es sind Frauen in Ausnahmesituationen, unter finanziellem Druck, ohne Deutsch-Kenntnisse.
Quelle: ZDF
Sehen Sie mehr zu dem Thema bei frontal. Am 5. September um 21 Uhr im ZDF und in der ZDF-Mediathek.
Polizei: Kein Eingreifen ohne Hinweise auf Straftaten
Wie reagieren Behörden und die Polizei auf solche Fälle? "Das betrifft Frauen aus allen Ländern und nicht nur ukrainische Geflüchtete, dass die in Deutschland diese Entscheidung treffen können. Das ist bei uns das Gesetz", erklärt Helga Gayer, Leiterin des Referats Menschenhandel im Bundeskriminalamt.
Gleichzeitig machen die Behörden klar, dass bislang kein Anstieg bei der Zahl ukrainischer Frauen in der Prostitution zu beobachten sei.
Menschenhandel erst verzögert sichtbar
Das Problem ist nur: Sexuelle Gewalt und Menschenhandel werden häufig erst Jahre nach Flucht und Vertreibung in den Statistiken sichtbar. Das ergeben Daten der OSZE aus den vergangenen Jahrzehnten.
"Wir können uns nicht erlauben zu denken: In den ersten zwölf Monaten haben wir keinen einzigen Fall gefunden, gute Arbeit, Problem gelöst", warnt deshalb Andrea Salvoni. Gerade jetzt bräuchten die Ukrainerinnen Unterstützung und es müsse dafür gesorgt werden, dass sie nicht in die Hände von Menschenhändlern fallen.
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.