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Gemeinsame EU-Schulden:Großer Tabubruch oder richtiger Schritt?
von Frank Bethmann
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Mario Draghi eröffnet mit seinem Bericht eine neue europäische Schuldendebatte. Kommen jetzt Euro-Bonds? Was spricht dafür, was dagegen?
Draghi plädiert unter anderem für mehr gemeinsame Finanzierungen von Investitionen.
Quelle: AFP
Der Draghi-Bericht schlägt auch Tage nach seiner Veröffentlichung hohe Wellen. Schonungslos deutlich und in aller Klarheit legt der Italiener den Finger in die Wunde.
Europa sei wirtschaftlich zurückgefallen. Um die Produktivitäts- und Investitionslücke gegenüber den USA wieder schließen zu können, seien Mindestinvestitionen von bis 800 Milliarden Euro nötig - jährlich wohlbemerkt.
Der frühere Präsident der Europäischen Zentralbank Mario Draghi fordert in einem Strategiebericht mehr Investitionen von der EU. 10.09.2024 | 2:19 min
Woher soll das Geld kommen?
Doch woher sollen diese Gelder kommen? "That is the big (mit einem langgezogenem "i") question", sagte Draghi bei der Vorstellung seines Berichts und lächelte. Um dann selbst die Antwort zu geben. Ein Teil der Summe könne aus bestehenden Töpfen der EU kommen, so Draghi, doch das reiche bei Weitem nicht.
Und so braucht es nicht viel Fantasie, um die Vorschläge des einstigen italienischen Regierungschefs als Auftakt zu einer neuen europäischen Schuldendebatte zu verstehen. Draghi fordert nämlich mehr oder weniger deutlich, dass die 27 Mitgliedsländer gemeinsam Schulden aufnehmen sollten. Aus deutscher Sicht ein Tabu-Thema. Die Bundesregierung lehnt neue Euro-Bonds und weitere EU-Töpfe rigoros ab.
Von der Leyen offen für gemeinsame Finanzierungsprojekte
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die den Bericht in Auftrag gegeben hat, zeigt sich da deutlich weniger ablehnend. "Für bestimmte europäische Projekte wird es eine gemeinsame Finanzierung geben müssen", ist sie überzeugt. An welche Projekte sie unter anderem denken dürfte, liegt auf der Hand.
Ausgaben für die Verteidigung oder für den Ausbau grenzüberschreitender Energienetze würden am einfachsten gemeinsame Schulden rechtfertigen. Gerade gemeinsame Energienetze könnten Strom billiger machen und damit eine der größten Wachstumsbremsen Europas lösen, die hohen Energiekosten.
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Das Für und Wider gemeinsamen Schuldenmachens
Es gäbe also durchaus nachvollziehbare Gründe für eine gemeinsame Schuldenaufnahme, doch ebenso finden sich gute Argumente dagegen. "Mehr Staatsschulden kosten Zinsen, schaffen aber nicht zwingend mehr Wachstum", hält Finanzminister Christian Lindner dagegen. Draghis Wettbewerbsagenda zu nutzen, um nun die Geldschleusen weit zu öffnen, hält er für falsch.
Eine gemeinsame Verschuldung, um Investitionen in Europa anzukurbeln, von dieser Idee hält auch der frühere Chef-Ökonom der EZB, Otmar Issing, nichts. Bezogen auf Draghis Vorschlag sagt Issing: "Was er als Analyse bietet, ist erschreckend, aber nicht neu, was er als Lösung bietet, ist nicht neu, aber erschreckend."
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Gemeinsame europäische Schulde - bislang einmalig
Nun sollte man nicht denken, dass sich die Europäische Union noch nie Geld an den Kapitalmärkten besorgt hätte. Das Prinzip gemeinsam Schulden machen, um Projekte anzukurbeln, ist nicht neu. Im Jahr 2020, also zu Corona-Zeiten, verschuldete sich die EU erstmals in großem Umfang, um den sogenannten Wiederaufbaufonds zu finanzieren.
Der Topf soll die Folgen der Pandemie lindern, die Energiewende vorantreiben und die Digitalisierung beschleunigen. Die Ausnahme wurde möglich, weil sich alle EU-Staaten darauf verständigten, dass der Unterstützungsfonds befristet ist. Inzwischen liebäugeln jedoch nicht wenige in Brüssel mit einer Verlängerung bzw. Ausweitung dieses Fonds. Bisher jedoch gelten weitere Gemeinschaftsschulden als ausgeschlossen.
Europäische Kapitalmarktunion steht ganz oben auf der Agenda
Als zusätzlichen Schritt zur Finanzierung der Investitionen fordert Draghi, die geplante Kapitalmarktunion möglichst zügig voranzutreiben. Damit gemeint ist die bessere Integration der europäischen Börsen. Die Kapitalmarktunion soll es ermöglichen, dass die vielen von Draghi vorgeschlagenen Projekte auch von privaten Investoren finanziert werden können.
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Denn längst hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die großen politischen Vorhaben, vor allem die grüne und digitale Transformation, nicht allein von Staaten und Banken gestemmt werden können. Die Hoffnung daher ist, dass ein stärker integrierter Kapitalmarkt, Europa attraktiver macht für private Investoren.
Für die jetzt beginnende Amtszeit der neuen Kommission hat sich Ursula von der Leyen jedenfalls die Kapitalmarktunion genauso auf die EU-Fahne geschrieben, wie das Ziel Europa wieder wettbewerbsfähiger zu machen. Sie wird an den Ergebnissen gemessen werden.
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