Draghi-Bericht: Warum Europa den Anschluss verliert

    Interview

    Draghi-Bericht zur EU-Wirtschaft:Warum Europa den Anschluss verliert

    von Lara Wiedeking
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    Zu wenig Investitionen und Innovationen, zu viel Bürokratie: Die Wirtschaft der EU droht, von China und den USA abgehängt zu werden. Was jetzt geschehen muss.

    Früherer EZB-Chef Mario Draghi überreicht Ursula von der Leyen auf der Bühne den Bericht zur EU-Wirtschaft.
    Mario Draghi sieht die wirtschaftliche Zukunft Europas in Gefahr. Um den Rückstand im globalen Wettbewerb aufzuholen, fordert er umfassende Reformen und eine Neuausrichtung der EU-Politik.
    Quelle: Reuters

    Europas Wettbewerbsfähigkeit schien in den letzten Jahren garantiert zu sein: Made in Europa ein Qualitätsargument, das Wirtschaftswachstum stets positiv. Doch das ändert sich - die Europäische Union droht, von China und den USA abgehängt zu werden.
    Draghi stellt Bericht über Europas Wettbewerbsfähigkeit vor
    Die EU droht den Anschluss an China und die USA zu verlieren. Der ehemalige EZB-Chef Draghi stellt in seinem Bericht Maßnahmen vor, um die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu stärken.09.09.2024 | 2:58 min
    Das zeigt ein Bericht des ehemaligen Chefs der Europäischen Zentralbank EZB, Mario Draghi. Sein Fazit zur europäischen Wirtschaft: Zu wenig Innovationen, zu hohe Energiepreise, zu wenig Investitionen - 400 Seiten voller bitterer Wahrheiten. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat den Bericht gestern offiziell überreicht bekommen.
    Auf diesen Bericht müssen jetzt Taten folgen, das sagt Sandra Parthie. Sie leitet das Brüsseler Büro des Instituts der deutschen Wirtschaft.

    Sandra Parthie
    Quelle: ZDF

    Sandra Parthie ist Expertin für europäische Wirtschaftspolitik und leitet das Brüsseler Büro des Instituts der deutschen Wirtschaft. Sie ist seit 2015 im IW und hat Politik und Wirtschaft an der Universität Berlin und in Montréal, Kanada, studiert. Das Institut der deutschen Wirtschaft hat seinen Hauptsitz in Köln und ist ein privates Wirtschaftsforschungsinstitut.

    ZDFheute: Wir haben jetzt zwölf Monate auf diesen Bericht von Mario Draghi gewartet. Wie düster ist die Lage für die Wirtschaft in der EU?
    Sandra Parthie: In dem Bericht von Mario Draghi ist wenig Neues drin. Neu ist allerdings die Dringlichkeit und die Deutlichkeit, mit der er untermalt, wo überall die Probleme sind. Und wie groß das Problem tatsächlich ist. Vor dem Hintergrund muss man wirklich sagen:

    Ja, es ist ziemlich düster. Wir haben riesengroße Investitionslücken.

    Sandra Parthie, Institut der deutschen Wirtschaft

    ZDFheute: Wie schlimm ist es denn, wenn wir jetzt mal bei den Investitionen zum Beispiel bleiben?
    Parthie: Wir haben bei uns im Institut der deutschen Wirtschaft eine Analyse gemacht: Allein in Deutschland fehlen 600 Milliarden Euro an Investitionen in die Infrastruktur. Wir sehen schon in Deutschland die maroden Brücken, wir sehen die fehlende Infrastruktur für die Schulen und so weiter. Da ist Riesenbedarf, und das multipliziert sich auf der europäischen Ebene. Wir reden von Trillionen - also Summen, die sich kein normaler Mensch mehr vorstellen kann.
     Rheinland-Pfalz, Mainz: Das Pharma-Unternehmen Biontech hat seinen Hauptsitz in der Landeshauptstadt.
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    ZDFheute: Gibt es eine Zahl, die man konkret nennen kann, um zu vergleichen, wie Europa im Vergleich zu China und den USA dasteht?
    Parthie: Was eine ganz interessante Zahl ist, auch aus dem Bericht von Mario Draghi, ist der Bedarf an Investitionen: Fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist eine Zahl, die hat man seit 50 Jahren so nicht mehr gesehen. Wir haben nach dem zweiten Weltkrieg den Marshallplan gehabt, den hat auch Mario Draghi noch mal zum Vergleich herangezogen. Das waren ein bis zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, und der hat wirklich viel bewirkt für Europa.
    ZDFheute: Unternehmen wandern ab, gehen woanders hin. Was macht zum Beispiel die USA so viel attraktiver?
    Parthie: Vor allem die Tech Unternehmen, auch das ist im Bericht deutlich geworden, wandern ab. 30 Prozent der sogenannten Unicorns, also der Tech-Start-Ups, die große Wertsteigerungen erreichen können, wandern in die USA ab. Es kommen aber keine aus den USA hierher. Es ist nicht nur das Thema Finanzen und finanzielle Unterstützung, sondern es geht um die Rahmenbedingungen. Es geht in den USA sehr viel schneller, sich niederzulassen. Es geht sehr viel schneller, an Kapital heranzukommen. Es ist einfacher, wenn es um Steuerfragen geht.

    Die USA sind ein riesengroßer Markt mit über 300 Millionen Akteuren und einem einzigen Steuersystem. In Europa sind es etwa 450 Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher, ungefähr aber 27 Steuersysteme.

    Sandra Parthie, IW, Büro Brüssel

    Das ist für jemanden, der sein Produkt nicht nur in einem nationalen Markt anbieten möchte, sondern größer werden will, der völlige Bürokratiewahnsinn. Es geht nicht nur um die finanzielle Seite, sondern es geht auch um andere Rahmenbedingungen: um Bürokratie, um Unterstützung für Unternehmen und um einfache Prozesse. Und die haben wir in Europa im Moment nicht.
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    ZDFheute: Ist denn jetzt mit dem Bericht der politische Wille da, dass man das als EU angeht?
    Parthie: Es ist ganz schwer vorherzusagen. Im Prinzip können wir eher das Gegenteil beobachten. Die Mitgliedsstaaten, die Regierungen in den Hauptstädten, sind derzeit mit vielen anderen Themen beschäftigt. In Frankreich etwa geht es gerade darum, den neuen Premierminister zu bestätigen. In Deutschland kämpft die Ampel mit sich selbst und der Migrationsfrage. In Spanien ist die Regierung auch alles andere als sattelfest.

    Keine dieser Regierungen ist momentan auf Brüssel wirklich fokussiert, hat momentan ganz oben auf ihrer To Do Liste zu stehen, in die europäische Wettbewerbsfähigkeit zu investieren.

    Sandra Parthie, IW, Büro Brüssel

    ZDFheute: Woran hapert es denn also?
    Parthie: Aus meiner Warte hapert es vor allem am politischen Willen, aus den nationalen Hauptstädten. Es ist kein Erkenntnisproblem.

    Dann muss man auch bereit sein, auf nationale Befindlichkeiten vielleicht bis zu einem gewissen Grad zu verzichten. Sich auch mal zurückzunehmen, die nationalen Interessen des eigenen Landes ein bisschen abwägen mit dem, was im Endeffekt für die EU als positive Entwicklung rauskommen könnte.

    Sandra Parthie, Leiterin des Brüsseler Büros des IW

    ZDFheute: Was droht uns, wenn jetzt nichts passiert?
    Parthie: Mario Draghi hat es so schön gesagt. Es ist kein "Do or Die"-Moment. Es geht jetzt nicht darum, dass wir dann morgen hier quasi nicht mehr existieren. Sondern Draghi sagte "Slow Agony" - ein langsames Siechtum.
    Wir sehen es im Alltag. Unsere Unternehmen wandern ab. Das heißt, Dienstleistungen werden in Europa, in Deutschland nicht mehr in dem Maße angeboten oder werden teurer. Oder wir müssen sie uns von woanders holen, dann entsprechen sie nicht mehr unbedingt unseren Wertvorstellungen. Und wir geraten auch als Verbraucherinnen und Verbraucher in eine Negativspirale.
    Das Interview führte Lara Wiedeking

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    mit Video

    Eine Person hält ein Smartphone in der Hand. Darauf ist der WhatsApp-Channel der ZDFheute zu sehen.
    Quelle: ZDF

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