Interview
Nach Wahl in Georgien:Beobachter kritisieren Fälle von Einschüchterung
von Felix Klauser, Tiflis
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Nach der Parlamentswahl in Georgien reklamieren beide politische Lager den Wahlsieg für sich. Dem Land drohen unruhige Tage: die Opposition ruft zu Protesten in der Hauptstadt auf.
Nach der Parlamentswahl in Georgien erkennt die Opposition den von der Wahlleitung verkündeten Sieg der Regierungspartei nicht an. Wahlbeobachter stellten zahlreiche Verstöße fest.27.10.2024 | 2:21 min
Um kurz nach sechs am Samstagabend ziert ein Feuerwerk den Himmel über Tiflis, gezündet von der Regierungspartei. Der Georgische Traum jubelt - und mit ihm seine Anhänger. Erste Hochrechnungen der regierungsnahen Medien zeigen schon da: es dürfte reichen für einen Wahlsieg.
Auf der Wahlparty schwört Bidsina Iwanischwili, der reichste Mann Georgiens und Chef der Regierungspartei Georgischer Traum, seine Anhänger ein und bedankt sich für den vermeintlichen Wahlsieg: "Das ist ein seltener Fall auf der Welt, dass die Regierungspartei in so einer schwierigen Situation solchen Erfolg erzielt".
Bei der Parlamentswahl in Georgien gibt es Verdacht auf Wahlfälschung. ZDF-Korrespondent Armin Coerper berichtet aus Tiflis. 27.10.2024 | 0:55 min
Opposition erkennt Wahlergebnis nicht an
Doch zur selben Zeit jubeln die Anhänger anderer Parteien auf anderen Wahlpartys: denen der Opposition. Auch deren Nachwahlbefragung soll zeigen, dass es für eine Mehrheit der verschiedenen Oppositionsbündnisse reicht. Der Georgische Traum nach zwölf Jahren in der Regierung ist aus ihrer Sicht abgewählt.
Nach stundenlanger Hängepartie sehen erste offizielle Ergebnisse die Regierungspartei vorne: der Georgische Traum hat demnach gewonnen. Und nach Beratungen in der Nacht zum Sonntag wird bekannt, dass die prowestlichen Oppositionsbündnisse die offiziellen Ergebnisse nicht anerkennen.
Am Sonntagmorgen dann die Nachricht: die Wahlkommission hat den Georgischen Traum mit 54,09 Prozent der Stimmen zur Wahlsiegerin erklärt.
Georgien hat ein neues Parlament gewählt. Die Frage ist, ob das Land näher an die EU oder Russland rückt. 26.10.2024 | 0:57 min
Internationale Wahlbeobachter kritisieren Wahl
Wenige Stunden nach Bekanntgabe des Ergebnisses äußerten sich internationale Wahlbeobachter besorgt über zahlreiche Unregelmäßigkeiten. Die Experten beklagten unter anderem Fälle von Einschüchterung der Wähler, Druck auf Behörden, Gewalt gegen Beobachter, Stimmenkauf sowie Mehrfachabstimmungen und das Stopfen von Wahlzetteln in Urnen, wie die Mission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) mitteilte. Sie forderte eine Untersuchung der Fälle und mahnte weitere demokratische Reformen an.
Der Urnengang sei durch "Ungleichheiten (zwischen den Kandidaten), Druck und Spannungen" gestört worden, urteilten die Wahlbeobachter. Sie brachten Bedenken zur Glaubwürdigkeit des offiziellen Ergebnisses zum Ausdruck. Einer der Beobachter, Antonio Lopez-Isturiz White, sagte, die Wahlen vom Samstag seien "der Beweis" für den "Rückschritt der Demokratie" in dem Kaukasusland mit seinen rund vier Millionen Einwohnern.
Georgien liegt südlich von Russland. Abchasien und Südossetien sind abtrünnige Gebiete, Moskau erkennt sie als unabhängige Staaten an.
Quelle: ZDF
Oppositionspartei: Wahlkommission hat Iwanischwili gehorcht
Die Wahlkommission habe nur den Befehlen Iwanischwilis gehorcht, beklagt die Chefin der Partei Vereinte Nationale Bewegung (UNM) von Ex-Präsident Michail Saakaschwili, Tina Bokutschawa.
Gewalt vor Wahllokalen
Schon der Wahltag war überschattet von Gewaltexzessen. Vor vielen Wahllokalen wurde die politische Auseinandersetzung körperlich ausgetragen. "Ich möchte auf die zutiefst beunruhigenden Vorfälle von Gewalt in verschiedenen Wahllokalen hinweisen", sagte dazu die georgische Präsidentin Salome Surabischwili.
Sowohl das pro-europäische, wie auch das Moskau-freundliche Lager verbuchen die Parlamentswahl in Georgien für sich. ZDF-Korrespondent Armin Coerper aus Tiflis mit einer Analyse.26.10.2024 | 1:50 min
Die Wahl gilt als Schicksalswahl für Georgien, das sich zwischen einem immer stärker nach Russland schwenkenden Kurs der Regierungspartei und der pro-europäischen Opposition entscheiden muss. Doch der Richtungsentscheid wird nun zur Hängepartie. "Für die Opposition und die organisierte Zivilgesellschaft ist das Ergebnis ein Desaster", sagt Stefan Meister, von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
Manipulationsvorwürfe bei der Wahl?
Schon der Wahltag wird von massiven Manipulationsvorwürfen überschattet. Videos sollen zeigen, wie Wähler mehrere Zettel in die jüngst für diese Wahl eingeführten Wahlcomputer legen. Hinweise darauf, dass Fotos in den Wahlkabinen angefertigt werden, womöglich um das Wahlverhalten an Arbeitgeber zu melden, gibt es dutzendfach.
Internationale Beobachter beklagen ebenso wie die Opposition Hunderte Wahlrechtsverstöße. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Frank Schwabe, der den Wahltag in Georgien beobachtet hat, sagt dem ZDF:
2008 kommt es zu einem Krieg zwischen Russland und Georgien. Es geht um die autonomen Republiken Abchasien und Südossetien in Georgien. Bis heute hat der Krieg Auswirkungen. 25.10.2024 | 1:00 min
Nachweis von Manipulation dürfte schwierig werden
Doch ob es tatsächlich gelingt, Manipulation nachzuweisen, ist unklar. Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik sieht weniger die tatsächliche Fälschung von Stimmzetteln als Problem - sondern eher das Umfeld der Wahl. Es sei zu "massiven Bedrohung von Wahlbeobachtern gekommen sowie zu einem System der Bestechung von Wählern", so Meister.
Die Reklamation des Wahlsiegs durch beide politische Lager ist das befürchtete Worst-Case-Szenario nach der Wahl. Verschiedene Oppositionsparteien haben angekündigt, in den nächsten Tagen in Tiflis auf die Straße zu gehen. Dem Land stehen politisch unruhige Zeiten bevor.
Felix Klauser berichtet als Korrespondent über Russland, den Kaukasus und Zentralasien.
Quelle: ZDF
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Quelle: mit Material von dpa, AFP
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