In dem berühmten Kinderbuch "Jim Knopf und die Wilde 13" kommt ein Riese vor. Sein Name ist Herr Tur Tur. Von weitem wirkt er furchteinflößend, aber um so näher man ihm kommt, desto so kleiner wird er. Er schrumpft auf Augenhöhe. Er ist nett und will niemandem etwas Böses.
Ein wenig wirkt Europa so wie dieser Scheinriese. Es lebt von und in seinem historischen Glanz. Es ist stolz auf seine Werte und es ist nicht schüchtern, die Welt mit seinem moralischen Anspruch zu konfrontieren. Aber die anderen Staaten, die auf dem G20-Gipfel um Aufmerksamkeit und Bedeutung buhlen, holen auf, kommen Europa näher, das dabei ist zu schrumpfen.
Die Welt sortiert sich neu. Die Machtzentren bewegen sich weg von Europa.
Indien: Name "Bharat" als neues Selbstbewusstsein
Die koloniale Geschichte Großbritanniens will Indien endgültig abschütteln. Auch wenn das Vereinigte Königreich nicht mehr in der
EU ist, symbolisiert dieser Schritt doch das Selbstbewusstsein einer aufstrebenden Nation.
Europa verlässt sich zu sehr auf die USA
Russlands Angriffskrieg hat Europa geschockt. Nicht nur, weil der Kontinent glaubte, dass ein solcher Tabubruch der internationalen Ordnung nicht vor der eigenen Haustür stattfinden könnte, sondern irgendwo in fernen Ländern. Der Krieg offenbarte schonungslos das Scheinriesenartige.
Militärisch ist Europa wie ein reicher Kaufmann, der verletzlich durch eine gefährliche Nachbarschaft läuft. Dabei verlässt es sich auf den großen Bruder aus Amerika, der es seit Jahrzehnten beschützt. Ohne die militärische Supermacht
USA wäre Kiew schon längst gefallen.
Jahrzehntelang hat Europa über eine eigene Armee nachgedacht, doch Versuche einer gemeinsamen Verteidigungspolitik scheiterten an nationalen Egoismen. Das rächt sich jetzt. Vor allem, wenn man nach Washington schaut. Dort will
Donald Trump wieder Präsident werden. Europas Schutz in seinen Händen lässt selbst die waghalsigsten Optimisten in Brüssel erschaudern.
Zeitenwende auch bei der EU
Europa versucht, zu reagieren. Der
Ukraine-Krieg hat auch eine Zeitenwende in Brüssel ausgelöst. Schnell wurde ein Sanktionspaket nach dem anderen beschlossen, die Verteidigungsetats steigen, die milliardenschwere, militärische und wirtschaftliche Hilfe für Kiew beweist die Handlungskraft Europas.
Aber die Mittel sind begrenzt. Denn auch wirtschaftlich schrumpft Europa. Im Jahr 1980 entfielen 26 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung auf die EU, heute sind es 15 Prozent, Tendenz sinkend. Andere Regionen wachsen schneller.
China setzt Europa unter Druck
Vor allem Asien, mit dem mächtigen
China. Dessen Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung wuchs in der gleichen Zeit von 2 auf mehr als 18 Prozent, Tendenz steigend.
Chinas Aufstieg basierte einst auf der Produktion von einfachen Billigprodukten. Aber heute setzt es die
europäischen Konzerne mit der Produktion von Spitzentechnologie unter Druck. China droht in der chemischen, pharmazeutischen Industrie, in der elektronischen Industrie und im Maschinenbau Europa zu überholen. Das hat folgen, nicht nur für unseren Wohlstand, sondern auch für unsere Werte.
In Sachen Elektromobilität hinkt Europa China hinterher. Beim Heimspiel auf der IAA treffen die deutschen Autobauer nun auf die chinesische Konkurrenz - und deren günstige Preise.05.09.2023 | 2:43 min
Debatte um Mercosur-Abkommen zeigt Europas Hybris
Europa tritt gerne als moralische Supermacht auf. Das nervt viele Länder. Ein Beispiel: Das Mercosur-Abkommen mit den südamerikanischen Staaten Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay. Es wäre die größte Freihandelszone der Welt mit mehr als 700 Millionen Menschen. Das Abkommen schien unterschriftsreif. Dann kam Brüssel mit Sonderwünschen zu Umweltfragen. Die Südamerikaner fühlten sich bevormundet. Das Abkommen droht nun zu scheitern.
Umweltpolitik, Menschenrechte,
Klimafragen sind wichtig. Aber um so mehr Europas Einfluss schrumpft, desto geringer die Chancen, die Standards zu bestimmen. Schrumpfende Riesen geben mehr nicht den Ton. Vor allem, wenn sich neue Giganten auf dem G20-Gipfel breitmachen. Der Scheinriese Europa muss sich strecken.
Ulf Röller ist Leiter des ZDF-Studios in Brüssel.