Armenien: Von Russland im Stich gelassen?

    Durch Ukraine-Krieg geschwächt:Armenien: Von Russland im Stich gelassen?

    von Sebastian Ehm, Jenifer Girke & Nina Niebergall
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    Russland ist wegen des Krieges in der Ukraine geschwächt. Die Folge: In Ex-Sowjetrepubliken brechen ungelöste Konflikte wieder auf. So auch in Armenien und Aserbaidschan.

    Frau mit Gewehr
    Armenien fühlt sich von seiner ehemaligen Schutzmacht Russland allein gelassen. Die Region Bergkarabach ist umkämpft. Aserbaidschan setzt selbstbewusst seine Interessen durch.20.06.2023 | 23:40 min
    Moskau hat 70 Jahre lang alles in der Sowjetunion dominiert. Politik, Wirtschaft, Militär. Konflikte löste der Kreml auf seine Art. Auch nach dem Zusammenbruch der UdSSR, zu Zeiten der GUS-Gründung (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten).  
    Doch das änderte sich mit dem Angriff auf die Ukraine. Russland ist wegen des Krieges geschwächt, zieht sich aus anderen Konfliktherden zurück. Einer davon ist der Bergkarabach-Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan.

    Die GUS ist eine zwischenstaatliche Organisation mit Sitz in Minsk, gegründet Ende 1991. Ziel der Institution war die Schaffung eines Wirtschafts- und Sicherheitsraumes, um damit die Folgen der Desintegration der Sowjetunion zu mildern. 

    Wer gehört zur GUS?
    Gründungsmitglieder waren die Sowjetrepubliken Russland, Ukraine und Belarus. Unmittelbar nach dem Zerfall der UdSSR traten Armenien, Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgisistan, Moldawien, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan bei. Turkmenistan ist seit 2005 nur noch assoziiertes Mitglied, Georgien trat erst 1993 bei, nimmt mittlerweile aber nicht mehr an allen Sitzungen teil. Die Ukraine ist 2018 aus Protest gegen die russischen Besetzung der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 aus der GUS ausgeschieden.
    Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung

    mädchen mit fahnen
    Immer wieder führen Armenien und Aserbaidschan blutige Kämpfe um die Region Bergkarabach. Was steckt hinter dem Konflikt und welche Rolle spielt Russland?31.05.2023 | 7:00 min

    Armenien fühlt sich von Russland alleingelassen

    Die Armenier fühlen sich seit dem Krieg in der Ukraine von Russland allein gelassen - von Russland, das eigentlich immer an ihrer Seite stand. Deshalb trainierte Angin Khachatryan im vergangenen Herbst fast jeden Abend in tarngrün mit Kalaschnikow-Attrappe, am Rande der Hauptstadt Jerewan. Eine Gruppe von Freiwilligen lässt sich zu Kämpfer*innen ausbilden, sie haben sich einer paramilitärischen Miliz angeschlossen. Denn sie haben Angst vor einem Krieg gegen den Erzfeind Aserbaidschan.

    Jeden Morgen wachten wir auf und haben Angst, dass es eine weitere Eskalation an der Grenze gab.

    Angin Khachatryan

    "Jeden Tag hörten wir von neuen Schießereien, von Verwundeten und neuen Opfern. Russland und die anderen Staaten bezeichnen sich als unsere Verbündeten. Aber Armenien kann sich nur auf sich selbst verlassen", so Angin Khachatryan.
    Wo verlaufen die Grenzen, wo hört armenisches Territorium auf, fängt aserbaidschanisches an? Die beiden Völker bekämpfen sich seit Generationen. In der Sowjetunion war alles ein Land, in der Zeit danach bricht der Kampf um die Grenzen wieder auf.

    Ein Jahr lang sind die zwei ZDF-Reporter Nina Niebergall und Sebastian Ehm in der ehemaligen Sowjetunion unterwegs gewesen, in sechs Ländern, die einst gemeinsam mit der Ukraine zur UdSSR gehörten. Und die vor allem seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Umbruch sind. Manche streben die EU an, andere sind massiv abhängig von Russland, wieder andere sind gespalten und unterstützen in Teilen Russlands Politik.
    Moldau, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Kirgisistan und Kasachstan - in allen Ländern ist der Einfluss des Kreml deutlich zu spüren, das Leben vieler Menschen ist bestimmt von Putins Macht. In einer dreiteiligen Serie wird in die diese Region geblickt und gezeigt, wie sich Kulturen, Wirtschaften und Politik verändern.

    Russland zieht sich aus Konflikt zurück

    Russland galt in diesem Kampf als Schutzmacht Armeniens. Bis zum Angriff auf die Ukraine, erklärt Politikwissenschaftler Tigran Grigorjan:

    Der Krieg in der Ukraine hat auch in unserer Region ein Machtvakuum geschaffen.

    Tigran Grigorjan, Politikwissenschaftler

    "Russland war der wichtigste Sicherheitsgarant in der Region. Aber Russlands Fähigkeiten haben seit der Invasion in die Ukraine erheblich abgenommen, auch seine Interessen in der Region haben sich verschoben. Also versucht Russland jetzt noch unparteiischer zu sein, im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan."
    Russland und das große Schweigen - russische Polizei
    Wie hat sich Russland seit Kriegsbeginn verändert? Stehen die Russen hinter Putin? ZDF-Korrespondentin Phoebe Gaa reist durch das Land auf der Suche nach Antworten.22.02.2023 | 32:57 min

    Bergkarabach im Fokus des Konflikts

    Im Zentrum des Konflikts: Bergkarabach. Um die Region gibt es immer wieder Kriege, zuletzt vor zweieinhalb Jahren. Erbittert, brutal, und mit Tausenden Toten auf beiden Seiten.
    Laut UN gehört Bergkarabach zu Aserbaidschan. Aber es wohnen mehrheitlich Armenier dort. Seit dem Krieg 2020 hat Aserbaidschan die Oberhand. Als Verbindung zwischen Armenien und Bergkarabach bleibt nur der schmale Latschin-Korridor.

    120.000 Menschen in Bergkarabach eingeschlossen

    Dass Armenier ungehindert nach Bergkarabach und zurückkönnen, soll eigentlich russisches Militär überwachen. Doch im Dezember blockieren Aserbaidschaner diesen Korridor. Und Russland bleibt untätig. Die Folge: 120.000 Menschen sind in Bergkarabach eingeschlossen, darunter 30.000 Kinder.
    Fast niemand kommt mehr raus - oder rein. So wie die Ehefrau von Hayk Ohanyan. Sie ist kurz vor der Blockade nach Armenien gefahren, um ihre kranke Mutter zu versorgen. Es dauerte sechs Monate, bis sie wieder zurück zu ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn konnte.
    Hayks Bruder ist im letzten Bergkarabach-Krieg 2020 gefallen - die Trauer ist nach wie vor groß. Und die Befürchtung, dass es erneut eskaliert: "Wenn Aserbaidschan kommt, haben wir keine andere Wahl, wir müssen zu den Waffen greifen. Ich glaube nicht, dass sie friedlich hierherkommen werden - es wird eine militärische Aggression sein, denn sie werden uns auf jede erdenkliche Weise zerstören wollen."
    Mann mit Pferd
    Kasachstan distanziert sich von Russland, will den Krieg gegen die Ukraine nicht unterstützen. Kirgisistan ist noch auf die Gunst Moskaus angewiesen.20.06.2023 | 28:45 min
    Wie Armut ein Land in die Arme Russlands treibt und warum Kasachen ihr Leben lang nur Russisch sprechen konnten, sehen Sie in Teil drei der Reihe "Leben im Schatten Russlands":

    Aserbaidschan und sein wachsendes Selbstbewusstsein

    Nur sieben Kilometer von Hayks Wohnort sieht man das ganz anders – hier liegt Schuscha. Die aserbaidschanische Armee hat die Stadt im Krieg 2020 zurückerobert. Doch das soll erst der Anfang sein. Aserbaidschan will ganz Bergkarabach unter seine Kontrolle bringen. Der autokratische Präsident Ilham Aliyev lässt Schuscha im Akkord wieder aufbauen. Mit Geld, das ihm das viele Öl im Land einbringt.
    Aliyev nutzt den Ort, um seine Überlegenheit über Armenien zu demonstrieren und für seine nationalistischen Botschaften: "Dass Karabach frei ist, war immer der Traum meines Vaters Heydar Aliyev und aller Aserbaidschaner weltweit. Wir haben uns diesen Traum erfüllt. Und das aserbaidschanische Volk wird sich immer an den Tag des Sieges am 8. November 2020 erinnern. Lang lebe das aserbaidschanische Volk! Lang lebe Aserbaidschan!"

    Aliyev bricht den Friedensvertrag

    Ende April schafft Aliyev Fakten und baut am Eingang des Latschin-Korridors einen Grenzposten auf. Ein Bruch des Waffenstillstandsabkommens von 2020. Doch der Autokrat fühlt sich im Recht.
    Wie tief die Wunden der vergangenen Kriege auch auf aserbaidschanischer sind, erleben wir bei Familie Dzhafarow. Der Ehemann von Aysel Dzhafarowa ist im Krieg 2020 gefallen. Das ganze Wohnzimmer ist ein Schrein für den Toten, die Familie ist in der ganzen Gegend bekannt. Elmaddin hat dem Ort auf dem Schlachtfeld Ehre gebracht, so sehen sie das hier.

    Konflikt mit Aserbaidschan
    :Armenien bereit, Bergkarabach aufzugeben

    Armenien erwägt, die umkämpfte Region Bergkarabach an Aserbaidschan abzugeben - und droht, aus der Militärallianz mit Russland auszutreten. Der Konflikt dauert bereits Jahrzehnte.
    Nikol Paschinjan, Ministerpräsident von Armenien
    Deswegen sagt seine Witwe Aysel, dass auch ihr Sohn in die Fußstapfen des Vaters treten soll: "Natürlich wird er zum Soldaten. Er soll wie jeder Mann ein Soldat sein. Es ist seine Pflicht, sein Heimatland zu verteidigen. Als Aserbaidschaner wird er in die Armee eintreten."
    Wie kann eine dauerhafte Aussöhnung gelingen zwischen zwei Völkern, die sich seit Jahrzehnten hassen, töten und bekriegen? Früher war Russland einflussreicher Vermittler in der Region. Aber seit dem Krieg in der Ukraine hat Moskau diese Macht nicht mehr.
    Aktuelle Meldungen zu Russlands Angriff auf die Ukraine finden Sie jederzeit in unserem Liveblog:

    Russland greift die Ukraine an
    :Aktuelles zum Krieg in der Ukraine

    Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.
    Auf dem Bild sieht man ukrainische Soldaten von hinten.
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