Nach dem Wagner-Aufstand: Was Russen über Putin denken
Nach dem Wagner-Aufstand:Was Russen und Russinnen über Putin denken
von Jenifer Girke
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Nur wenige Russen kritisieren Putin scharf und öffentlich. Noch weniger von ihnen leben nicht im Exil, sondern mitten im Land. Das ZDF-auslandsjournal konnte mit einigen sprechen.
Gespräche können überwacht, Oppositionelle inhaftiert und verfolgt werden. Kritik am russischen Regime ist gefährlich. Im ZDF-Interview äußern sich Russinnen und Russen dennoch.28.06.2023 | 9:10 min
In Russland bestimmt der Kreml die öffentliche Meinung - durch gesteuerte Staatsmedien, die keine Kritik an Präsident Wladimir Putin und seiner Politik zulassen, und durch gezielte Propaganda-Kampagnen.
Viele russische Staatsbürger*innen, die das Regime und dessen Präsidenten kritisieren, haben entweder das Land verlassen oder wurden festgenommen. Nur sehr wenige bleiben in Russland und setzen der Übermacht Putins etwas entgegen. Igor, Sascha* und Galina* (* Name geändert) wagen es und setzen damit ihre Freiheit, ihr Leben aufs Spiel.
Russischer Journalist: "Habe Putin nie gewählt"
Nach tagelanger Recherche in sozialen Netzwerken und Hunderten Nachrichten in Messenger-Diensten gelingt der Kontakt zu einem Journalisten in Rostow am Don. Er ist bereit zu einem Videocall. Igor Horoschilzew will mit Klarnamen und Gesicht über das reden, was in seinem Land passiert.
Mit Zensur, Desinformation und Druck auf Andersdenkende kontrolliert der Kreml die Stimmung im Land.
05.12.2022 | 43:45 min
"Das ist meine Heimat. Hier sind wir aber auch schon bei dem Problem: Heimat und Macht. Ich kenne den Unterschied", erzählt Igor. Und weiter:
Angst, sich so zu äußern, habe er keine. Er verstoße auch nicht gegen das Strafrecht. Seit 20 Jahren arbeitet der 48-Jährige als Journalist. Über seinen Beruf sagt er: "Ein echter Journalist sollte immer oppositionell zur amtierenden Staatsmacht sein. Ein Journalist sollte sich für Demokratie engagieren und keiner Partei zugehörig sein. Daran halte ich mich."
Wagner-Aufstand: Zeichen der "Machtlosigkeit" Putins
Den Wagner-Aufstand vergangenes Wochenende hat er mit seiner Kamera selbst gedreht. Von Anfang an, mitten in Rostow.
Zu nah durfte man den Soldaten nicht kommen. Trotzdem: Hunderte Bürger strömten auf die Straßen, brachten Wasser und Essen, erzählt Igor. Versorgten also diejenigen, die einen bewaffneten Aufstand im eigenen Land ausführen sollten. Es wirkte skurril, absurd fröhlich.
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Zu starker Einfluss russischer Medien
Doch die breite Mehrheit würde nicht verstehen, wie ernst die Lage ist, so Igor. Besonders mit Blick auf die Ukraine. Zu stark der Einfluss russischer Medien, zu schwierig der Zugang zu unabhängigen Quellen.
"Sie interessieren sich nicht für Politik. Ja, unsere Leute sind warmherzig, sie helfen auch den Flüchtlingen, aber sie haben keine Ahnung über die reale Lage, an der Front dieser sogenannten Spezialoperation. Die Menschen haben eine Haltung der Ignoranz", so Igor.
Wie hat sich Russland seit Kriegsbeginn verändert? Stehen die Russen hinter Putin?22.02.2023 | 32:57 min
Lage in Russland noch gefährlicher nach Putin?
Als linker Aktivist will Sascha anonym bleiben. Der Kontakt entsteht via Telegram. Auch er kritisiert das System Putin - warnt aber auch davor, dass es noch gefährlicher für Russland werden könnte.
"Der Fall Prigoschin hat gezeigt, dass noch schlimmere Leute als Putin an die Macht kommen könnten. Wir haben natürlich bereits eine militarisierte Gesellschaft, aber:
Diese Woche berichtet das auslandsjournal über den Söldneraufstand in Russland, die Wagner-Truppen in Belarus, Europas Infrastruktur im Visier Russlands und kritische Stimmen aus Moskau.28.06.2023 | 29:58 min
Prigoschins Aufstand: Weiterer Vertrauensverlust für Putin
Der 24-Jährige ist überzeugt: Putins Macht bröckelt - nicht erst seit ein paar Tagen: "Für alle, die Putin nicht leiden konnten, hat die Diskussion über den Anfang seines Endes schon im Februar 2022 begonnen."
Verändert habe sich trotzdem etwas: "Früher konntest du für Putin und Wagner sein, jetzt musst du dich entscheiden, für wen du bist. Und scheinbar bleiben nicht alle hinter Putin stehen. Einige haben entschieden, dass sie der Regierung nicht mehr so stark vertrauen", so Sascha.
Russland hat "sich selbst den Krieg erklärt"
Galina geht es nicht um Politik. Sie will der Welt, vor allem aber der Ukraine, zeigen, dass Russland auch ein anderes Gesicht hat. Obwohl sie große Angst vor möglichen Konsequenzen hat, ist sie bereit für ein Interview - voll anonymisiert. Seit dem Angriff auf die Ukraine lässt sie das schlechte Gewissen nicht mehr los.
Verzweiflung, Wut, Hoffnung, Euphorie - ZDF-Reporterinnen haben Menschen in der Ukraine seit Kriegsbeginn begleitet.15.02.2023 | 43:29 min
"Für mich ist das eine Katastrophe. In erster Linie deswegen, weil ich meine Heimat verloren habe. Für mich ist der 24. Februar letzten Jahres der Zerfall von allen Illusionen gewesen. Ich habe nicht verstanden, in was für einem Land ich eigentlich lebe", erzählt Galina mit zittriger Stimme. Und weiter sagt sie über Putins Angriff auf die Ukraine:
"Die Ukraine hat eine sehr helle und sehr gute Zukunft. Vielleicht nicht sofort und mit vielen Opfern und Hindernissen. Aber über Russland kann ich das nicht sagen", ergänzt Galina.
Galina hofft auf Vergebung von Ukrainern
Galina kümmert sich in Russland um ukrainische Geflüchtete. Bittet um Verzeihung. Sie weiß, das dass riskant ist:
Galina, Sascha und Igor bleiben trotz der Kritik in Russland - und bleiben damit seltene kritische Stimmen mitten in einem autoritären Regime.
* Name von der Redaktion geändert
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.