Pflegende wollen weg von der Opferrolle hin zu mehr Selbstbewusstsein. Der Deutsche Pflegetag fordert Reformen und überrascht mit einem politischen Appell.
Christine Vogler ruft es in den Saal. "Und wenn ihr etwas tausend Mal fordert und es ändert sich nichts, dann holt tief Luft und fordert es wieder und wieder und irgendwann seid ihr am Ziel." Die Präsidentin des Deutsche Pflegetages gibt den Ton vor: Macht euch nicht klein, eure Arbeit ist existentiell wichtig, ohne Pflege geht es nicht. Und: Ihr habt ein Recht auf gute Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen.
Pflegende in eine Ecke zu drängen - wie von der Politik immer wieder gemacht - ist mit Vogler an der Spitze schwer. Sie ist eben nicht nur warmherzig, sie ist auch durchsetzungsstark. Sätze wie: "Ihr macht so einen wichtigen Job, aber wir können auch nichts tun", lässt sie nicht mehr zu.
Lauterbach verspricht Reformen in der Pflege
Karl Lauterbach (SPD) spürt die Energie. Er wird mit freundlichem Applaus empfangen. "Das war gestern noch anders", eröffnet der Bundesgesundheitsminister seine Rede, "gestern beim Apothekertag in Düsseldorf". Das Publikum versteht sofort und lacht. Lauterbach war ausgebuht worden. Jetzt würdigt er diesen anderen Ton auf dem Deutschen Pflegetag.
Die Pandemie verdeutlichte den Bedarf an Reform-Maßnahmen für unser Gesundheitssystem. Noch immer ist die Personalnot groß. 28.09.2023 | 2:03 min
Er versichert, es sei noch möglich, die Herausforderungen in der Pflege zu bewältigen. Dies werde aber nicht gelingen, "wenn wir den Beruf nicht aufwerten". Das Ziel sei, Pflegekräften in Krankenhäusern und Pflegeheimen Aufgaben zu übertragen, die heute nur Ärztinnen und Ärzte erledigen dürften. Lauterbach würdigt Pflege als eine "Profession im Aufbruch". Warmer Applaus. Und dann setzt er noch einen drauf:
Einige lachen, der Applaus ist etwas verhaltener.
Pflege auf Augenhöhe mit Ärztinnen und Ärzten?
Wo früher Gräben waren, gibt es jetzt so etwas wie Brücken. Christine Vogler lobt den Bundesgesundheitsminister sogar. Pflege sei nur dann unantastbar, wenn die Politik den Rahmen schaffe, sagt sie: "Es ist das erste Mal, dass sich eine Regierung darum kümmert." Es ist ein Kompliment. Einfach so stehen lassen, will sie es nicht. Vieles werde im politischen Verfahren leider verwässert.
Vogler setzt neu an: "Wir sind existenziell wichtig, wir sind der Herzschlag der Pflege." Die 53-Jährige meldet Augenhöhe an - zum Minister, zu Ärztinnen und Ärzten. 7.000 Menschen aus der Pflegebranche sind zum einmal im Jahr stattfindenden Pflegetag gekommen. Es sind vor allem junge Leute und man hat kurz den Eindruck, dass es kein Nachwuchsproblem gibt. Doch die Ausbildungszahlen sind dieses Jahr zurückgegangen, nach Jahren der positiven Entwicklung. Es ist ein Wermutstropfen in einer aufbegehrenden Stimmung.
Aktive Rolle für die Pflege
Christine Vogler weiß, was Pflegende neben Geld und den richtigen Arbeitsbedingungen brauchen: Anerkennung. Ihre Rede schwankt zwischen kämpferisch, warm und pragmatisch, eins ist sie nie: devot. Der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt. Vogler will kein passives Publikum, fordert die Anwesenden zu einer aktiven Rolle auf - wie im richtigen Leben auch. Die eine Gruppe soll im Sitzen mit beiden Füßen auftreten. "Ihr seid die Gesellschaft", ruft Vogler.
Die andere Gruppe soll mit den Händen den Herzschlag nachmachen: "Ihr seid die Pflege." Die dritte Gruppe stellt den Widerstand dar. Vogler gelingt ein Kunststück: Es gibt nicht einen Moment des Fremdschämens, vielmehr Gänsehaut. Ein Ruck geht durch die Reihen, viele sitzen jetzt noch aufrechter. Ohne Pflege geht es nicht, das soll jeder begreifen.
Pflege ist auch politisch
Und dann ist da dieser Appell, der weit über die Pflege hinausgeht und direkt aus ihr kommt. Wohl, weil Pflegende besonders nah an den Menschen und an gesellschaftlichen Stimmungen sind. Die Präsidentin des Deutschen Pflegerates kommt in ihrer Rede plötzlich "auf eine Partei mit nationalsozialistischem Sprachgebrauch", die von "migrantischen Kindern als Belastungsfaktoren" spreche, für die "Inklusion von Kindern mit Behinderung ein Ideologieprojekt" sei. Christine Vogler wird lauter:
Vogler fügt hinzu: "Eine Partei mit solch faschistischer und menschenfeindlicher Haltung darf nicht gewählt werden." Der Applaus ist groß und geschlossen. Die Präsidentin setzt ein deutliches Signal: Pflege duckt sich nicht weg, weder im eigenen Alltag noch in der Politik. "Wir müssen wachsam bleiben", mahnt Vogler und für einen Moment ist es ganz still im Saal.
Rund 7.000 Teilnehmer werden zum Deutschen Pflegetag in Berlin erwartet. Der Notstand ist groß, denn es mangelt an Personal - und die Zahl der Pflegebedürftigen steigt weiter an.