Afghanistan: Merkels Dilemma bei Kabul-Evakuierung
Ex-Kanzlerin im U-Ausschuss:Afghanistan-Abzug: Merkels Dilemma
von Tobias Bluhm
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Angela Merkel blickt als Zeugin im Untersuchungsausschuss auf Entscheidungen bei der Kabul-Evakuierung zurück. Die Ex-Kanzlerin verteidigt ihre Politik, räumt aber auch Fehler ein.
Angela Merkel verteidigt den Bundeswehreinsatz in Afghanistan und räumt zugleich ein, dass Ziele verfehlt wurden. Der Abzug der Soldaten vor drei Jahren sei gut gelaufen.05.12.2024 | 1:42 min
Inzwischen ist Angela Merkel (CDU) gut in Übung, wenn es um Rückblicke auf ihre politische Karriere geht. Seit etwas mehr als einer Woche tourt die Altkanzlerin durch das Land, um in Interviews und bei Lesungen über die Vergangenheit zu reden - anlässlich ihrer jüngst veröffentlichten Memoiren.
Der Termin an diesem Donnerstag lud Merkel aber nicht unbedingt zum Schwelgen in guten Erinnerungen ein: Nach 96 vorangegangenen Sitzungen bestellte sie der Afghanistan-Untersuchungsausschuss des Bundestags zur Befragung ein. Im Kern standen dabei die Fragen: Welche Rolle spielte Merkel bei der chaotischen Evakuierung aus Kabul, nachdem die Stadt vor drei Jahren von den Taliban erobert worden war? Und hätte ihre Regierung besser vorbereitet sein können, gar müssen?
Merkel wurde von schnellem Fall Kabuls überrascht
Merkel tritt in der Befragung auf, wie viele sie aus ihrer Amtszeit erinnern: gut sortiert, systematisch, manchmal fast schon stoisch. Schon in ihrem Eingangsstatement wird deutlich: Die Altkanzlerin legt im Protokoll Wert auf Präzision. Die Fragenden interessieren sich in den folgenden fünf Stunden für ihre Perspektive der Vorgänge rund um den 15. August 2021, als die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul einnahmen.
Der Bundeswehr-Rückzug aus Afghanistan lässt im August 2021 hunderte Ortskräfte schutzlos in Kabul zurück. "Die Spur" beleuchtet, wie es zu dem politischen Versagen kommen konnte.14.08.2024 | 28:52 min
Merkel berichtet, wie sie gerade mal zwei Tage zuvor über die Eskalation informiert wurde - wegen ihres Urlaubs zunächst telefonisch von Kanzleramtschef Helge Braun, anschließend von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer. Wie schnell sich die Lage in den 48 folgenden Stunden zuspitzte - bis hin zur Flucht von Präsident Ashraf Ghani - überraschte die damalige Regierungschefin trotzdem:
Dass in der afghanischen Armee, die die Bundeswehr jahrelang ausgebildet hatte, der "Kampfeswille so niedrig" war, hatte sie nicht erwartet, fügt sie an. Was folgte, war der hastige Beschluss eines erneuten Bundeswehreinsatzes in Afghanistan, bei dem Diplomaten, deutsche Staatsbürger und nach Möglichkeit Ortskräfte ausgeflogen werden sollten. Die chaotischen Bilder des Einsatzes, insbesondere jene von der US-Rettungsaktion, gingen um die Welt.
Altkanzlerin Merkel muss dem Afghanistan-Untersuchungsausschuss des Bundestags als Zeugin Rede und Antwort stehen. ZDF-Reporterin Ines Trams berichtet aus Berlin.05.12.2024 | 1:17 min
Hätte Deutschland Ortskräfte früher retten müssen?
Wäre das Durcheinander nach dem schicksalhaften 15. August vermeidbar gewesen? Ja, meinen einige Abgeordnete, die der Regierung im Vorlauf zum Fall Kabuls an mehreren Stellen zu spätes Handeln, das Ignorieren von Warnungen oder falsche Einordnungen von Expertenbewertungen attestierten.
Merkel berichtet ebenfalls von Meinungsverschiedenheiten bei den Evakuierungsplänen zwischen den Ressorts. Sie selbst habe sich für eine Einigung zwischen dem Innen- und Verteidigungsministerium eingesetzt. Die Ministerien stritten sich bereits im Juni in der Frage, wie großzügig die Ausreise der Ortskräfte organisiert werden sollte.
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Das Dilemma mit den Ortskräften
Den Vorwurf, zu spät evakuiert zu haben, streitet Merkel vehement ab. Eine Evakuierung der Ortskräfte schon im Juli 2021, als der Bundesnachrichtendienst (BND) vor der möglichen Machtübernahme der Taliban warnte, wäre verfrüht gewesen. Bilder von abreisenden Ortskräften hätten nach außen gewirkt, als habe Deutschland selbst kein Vertrauen mehr in die Zukunft Afghanistans.
Der Wunsch, die Unterstützer der Bundeswehr in Sicherheit zu bringen, und zugleich die fortwährende Unterstützung des Landes zu betonen, sei ein "Dilemma" gewesen. Wie schnell Kabul letztlich doch fiel, sei zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar gewesen, beteuert Merkel.
Die Bemühungen um Afghanistan beurteilt sie letztlich dennoch als gescheitert:
Angela Merkel hat als Zeugin im Afghanistan-Untersuchungsausschuss ausgesagt. Dort erklärt die Altkanzlerin die Dilemmata von 2021 und verteidigt ihr Handeln. Zumindest weitgehend.
Wie geht es nun weiter?
Die Befragung Merkels bildete den Schlusspunkt der Befragungsreihe im U-Ausschuss. Zahlreiche Ex-Minister, Staatssekretäre, Botschafter und Topdiplomaten wurden in den vergangenen Monaten befragt, verhalfen dem Ausschuss zu einem ausführlichen Bild der Vorgänge.
Der Ausschussvorsitzende Ralf Stegner (SPD) dankte im Anschluss der "fleißigen Arbeit" des Untersuchungsausschusses, der laut Stegner in 118 Befragungen insgesamt 111 Zeugen hörte, sich 352 Stunden beriet, zwölf Sachverständige hörte, 6.348 Dateien und rund 1,5 Millionen Seiten Dokumente bearbeitete. Aus diesen Quellen wird nun ein Abschlussbericht entworfen, der dem Bundestag noch im Januar vorgelegt werden soll.
Die Kronzeugin Merkel wird darin wohl nur eine untergeordnete Rolle spielen - und kann sich in den kommenden Wochen somit wohl weiter den etwas angenehmeren Rückblicken auf ihrer politische Karriere widmen.