Kabul-Leak zu Afghanistan-Abzug: Ein vermeidbares Desaster

    Exklusiv

    Kabul-Leak ausgewertet:Abzug aus Afghanistan: Vermeidbares Desaster

    von C. Schweppe und C. Cesaro-Tadic
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    Geheime Akten, die dem ZDF vorliegen, zeigen: Als die Taliban Afghanistan eroberten, handelte die Regierung Merkel fahrlässig - trotz besserem Wissen. Und bat dann Putin um Hilfe.

    Evakuierung am internationalen Flughafen Hamid Karzai - 2021
    Zu den Vorfällen rund um die Evakuierungen im Zuge des Afghanistan-Abzugs sind neue Informationen aufgetaucht.
    Quelle: Reuters

    Drei Jahre nach dem Fall Kabuls beleuchtet ein Leak interner Regierungspapiere die chaotische Rettung von bedrohten Deutschen und Ortskräften aus Afghanistan neu.
    Damals, im August 2021, hatten die radikal-islamischen Taliban die Macht zurückerobert und eine historische Fluchtbewegung in Gang gesetzt, auf welche die Staaten des Westens trotz ihrer mehr als 20-jährigen Stationierung völlig unvorbereitet waren.
    Bundeswehrflieger, Soldaten, Menschen mit Koffern, diverse Schriftzüge und das grüne Die Spur-Logo im Hintergrund
    Der Bundeswehr-Rückzug aus Afghanistan lässt im August 2021 hunderte Ortskräfte schutzlos in Kabul zurück. "Die Spur" beleuchtet, wie es zu dem politischen Versagen kommen konnte.14.08.2024 | 28:52 min

    Militärisches Vorgehen der USA gegen Taliban "ausgeschlossen"

    Die Dokumente verschiedener Geheimhaltungsgrade zeigen, dass das Abzugsdesaster fahrlässiger und vermeidbarer war, als bislang von der Bundesregierung behauptet.
    So hat die damalige deutsche Botschafterin in den USA, Emily Haber, noch eindringlicher gewarnt als bekannt. Sie versicherte dem Staatssekretär im Außenministerium, dass die USA nicht militärisch gegen die vorrückenden Taliban vorgehen würden. "Ausgeschlossen", schrieb Haber schon am 12. August, also drei Tage vor dem Fall Kabuls.
    Collage: Bewaffnete Taliban auf der Straße vor Wohnhäusern während der Zurückeroberung
    Als Kabul fällt, sind die Agenten des afghanischen Geheimdienstes (NDS) auf sich alleingestellt. Und müssen ohne Hilfe ihr Leben und das ihrer Familien retten. 12.08.2024 | 29:11 min
    Haber schrieb ein halbes Dutzend E-Mails, die über einen bereits alarmierenden Botschaftsbericht vom 6. August 2021 hinausgingen. Schon darin hatte die Diplomatin gewarnt, dass man sich auf den Worst Case, den schlimmsten Fall, vorbereiten müsse. Das eingestufte Papier (markiert als "VS VERTRAULICH") liegt dem ZDF vor. Zur überhasteten Evakuierung bekräftigt Emily Haber in einem aktuellen ZDF-Interview:

    Planungen hätten vorgezogen werden müssen.

    Emily Haber, damalige deutsche Botschafterin in den USA

    Strack-Zimmermann: "Warnungen wurden ignoriert"

    Mit diesen Warnungen konfrontiert, sagt die damals als Oppositionsabgeordnete in Berlin beteiligte FDP-Sicherheitsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann:

    Das zeigt, dass es viele wussten - und nicht gehandelt haben. Das ist genau das, was wir damals befürchtet haben. Warnungen wurden ignoriert.

    Marie-Agnes Strack-Zimmermann, FDP-Sicherheitspolitikerin

    Bundeswehrflieger, Soldaten, Menschen mit Koffern, diverse Schriftzüge und das grüne Die Spur-Logo im Hintergrund
    Quelle: ZDF/Chris Petri

    "Geheimakte Kabul - Deutschlands Versagen in Afghanistan": Sehen Sie die Doku aus der ZDF-Reihe "Die Spur" am 14. August 2024 um 22:45 im TV im ZDF.

    Die heutige EU-Abgeordnete hatte 2021 Einblick in die Haber-Papiere gefordert, was die damalige Regierung blockierte. Die Mails der damaligen deutschen Botschafterin in Washington sind Teil des 220 Gigabyte großen Kabul-Leaks, das mithilfe eines Codes datenjournalistisch ausgewertet wurde.
    Ausgangspunkt der monatelangen Recherchen war die Frage, weshalb nicht mehr bedrohte Ortskräfte evakuiert worden waren, die jahrelang für Deutschland gearbeitet und sich dabei großer Gefahr ausgesetzt hatten.
    Vater, Sohn, Mutter und Tochter sitzen auf dem Sofa
    Die Bundesregierung hatte am 17. Oktober 2022 ein großes Evakuierungsprogramm für Afghanistan verkündet. Was ist daraus geworden?17.10.2023 | 9:33 min

    Merkel-Bitte an Putin um "freies Geleit" für Ortskräfte

    Brisant sind mehrere Gesprächsvermerke zur Moskau-Reise der damaligen Kanzlerin Angela Merkel Ende August 2021. Sie dokumentieren, was Merkel im Kreml damals mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin besprochen hat. Demzufolge ermahnte Merkel Putin, Russland möge "keine Überheblichkeit über das Scheitern des Westens zeigen".
    Putin entgegnete, "dass aus der Entwicklung in Afghanistan der Rückschluss gezogen werden müsse, dass Interventionen und eine Oktroyierung von Systemwechseln nach westlichem Vorbild zum Scheitern verurteilt" seien. Merkel bat ausgerechnet Putin, seine Kontakte zu den Taliban zu nutzen, um die Ausreise deutscher Ortskräfte zu ermöglichen, welche die Bundesregierung selbst verpasst hatte.
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    Seit 2021 regieren die islamistischen Taliban wieder in Afghanistan. ZDF-Reporterin Katrin Eigendorf ist es 2023 gelungen, in das weitgehend isolierte Land zu reisen.09.08.2023 | 28:50 min
    Wörtlich soll Merkel Putin um "freies Geleit" ersucht haben, wie es in einem der Vermerke heißt. Das Kanzleramt vermerkte Putins "demonstrierte Selbstzufriedenheit".

    Untersuchungsausschuss rekonstruiert deutsches Versagen

    Zusätzlich heikel ist der Vorgang, weil das Kanzleramt gleichzeitig wusste, dass Russland den Taliban, einer Terrorgruppe, Geld und Waffen zur Verfügung stellte. Das legt ein eingestuftes Dokument des BND vom 23. August 2021 nahe.
    Schon 2020 hatte der Bundesnachrichtendienst (BND) einen Sonderbericht zu russischen Waffenlieferungen verfasst. Das Bundeskanzleramt, das den BND beaufsichtigt, wollte auf Nachfrage weder die Waffen noch die Vermerke kommentieren und verwies auf Vertraulichkeit.
    Deutsche Soldaten mit Schusswaffen
    Die Enquete-Kommission des Bundestags hat eine erste Bilanz zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan gezogen. Sie sind zu einem vernichtenden Urteil gekommen.19.02.2024 | 0:27 min
    Aufgearbeitet wird das Kabul-Kapitel in einem Untersuchungsausschuss des Bundestags, der nach der politischen Verantwortung sucht. Dort war zuletzt auch eine Veröffentlichung der "Zeit" Thema gewesen, die ebenfalls aus den Kabul-Akten der Regierung zitiert hatte. Nun kommen weitere, bislang völlig unbekannte Unterlagen hinzu, die dem ZDF vorliegen.

    Grünen-Abgeordnete kritisiert Umgang der Regierung mit Informationen

    Laut der Grünen-Abgeordneten Sara Nanni, die Mitglied im Verteidigungsausschuss des Bundestags und im Untersuchungsschuss Afghanistan ist, hätte die Bundesregierung bereits 2020 in Betracht ziehen müssen, dass die Taliban Kabul zurückerobern würden.

    Es wäre wichtig gewesen, rechtzeitig - also im April 2021 - zu entscheiden, wen man im Zweifelsfall zusätzlich zu deutschen Staatsbürgern evakuieren würde.

    Sara Nanni (Die Grünen), Mitglied im Afghanistan Untersuchungsausschuss

    "Man hat sich eingeredet, die Taliban würden das Land nicht allzu bald übernehmen", sagt Nanni.
    Sara Nanni
    Sara Nanni, Bündnis'90/Die Grünen, bezeichnet das Handeln der Merkel-Regierung während des Eroberungszugs der Taliban 2021 als "inakzeptabel".14.08.2024 | 0:56 min
    Das sicherheitspolitische Versagen liege nicht an fehlenden Informationen, sondern an ignorierten Warnungen, bilanziert Nanni: "Man hätte den Fall Kabuls viel ernsthafter in Betracht ziehen müssen. Das ist nicht passiert."

    Einsatztagebuch enthüllt: Bundeswehrdaten blieben zurück

    Für das Verteidigungsministerium heikel ist die Veröffentlichung des internen Einsatztagebuchs zur deutschen Luftbrücke, die am 16. August 2021 in aller letzter Sekunde anlief. Dem 274-seitigen Dokument zufolge gab es in den etwa zehn Tagen der Luftbrücke mehrere kollabierte Kinder, Fehlgeburten und Verletzte.
    Neu ist dabei auch eine Bundeswehrpanne: Zwar hatten die insgesamt bis zu 600 Einsatzkräfte unter hohem Risiko versucht, noch so viele Menschen wie möglich zu retten. Beim letzten Abflug aus Kabul wurden am Flughafen jedoch Paletten mit Gepäck sowie sensiblen Daten vergessen. Darunter Personalbögen deutscher Feldjäger, die diese eindeutig identifizierten.

    Bundeswehr bestätigt zurückgelassene Daten und Gepäck

    Das Einsatztagebuch enthüllt, dass die USA anboten, die Paletten mitzunehmen, ehe auch sie Kabul verließen. Ein Schreiben hierzu ging am 17. August 2021 ein (markiert als "VS GEHEIM"). Die USA hätten die Paletten sogar sprengen dürfen, sodass sie nicht an Taliban fielen. Ob das geschah, kommentierte das Verteidigungsministerium auf Nachfrage nicht.
    Auf ZDF-Nachfrage bestätigte die Bundeswehr den Vorfall um die zwei Paletten, auf denen auch Rucksäcke deutscher Soldaten waren. Ebenso bestätigt wurde die US-Zusage, die heiklen Daten zu zerstören. Ein Sprecher teilte mit: "Dem Einsatzführungskommando der Bundeswehr liegen auch auf Nachfragen keine Erkenntnisse vor, dass die zwei Paletten nicht wie zugesagt durch US-Kräfte vernichtet worden sind."

    Eine Person hält ein Smartphone in der Hand. Darauf ist der WhatsApp-Channel der ZDFheute zu sehen.
    Quelle: ZDF

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