Magdeburg-Anschlag: Warnung vor "typischem Rückschaufehler"

    Interview

    Versagen vor Magdeburg-Anschlag?:Experte warnt vor "typischem Rückschaufehler"

    von Torben Heine
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    Die Aufarbeitung des Magdeburg-Anschlags geht weiter. Bei der Suche nach Verantwortlichen für ein mögliches Versagen der Sicherheitsbehörden warnt ein Experte vor einem Denkfehler.

    Marc Zöller im ZDF-Nachrichtenstudio
    Nicht jeder könne staatlich überwacht werden, dem etwas Böses zugetraut wird, erklärt Rechtswissenschaftler Mark Zöller. Es brauche eine zentrale Kontaktstelle.30.12.2024 | 13:43 min
    Auch mehr als eine Woche nach dem Anschlag auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt sind noch viele Fragen offen. Nun hat die politische Aufarbeitung begonnen. In einer Sondersitzung des Innenausschusses im Bundestag sollten unter anderem die Verantwortlichkeiten überprüft werden.
    Zu klären sein wird in den nächsten Wochen, vielleicht Monaten, auch: Was ist bei den deutschen Sicherheitsbehörden vor Magdeburg schiefgelaufen? Warum reagierten sie nicht auf Hinweise zum Täter und Drohungen? Das ordnete Rechtswissenschaftler Mark Zöller von der LMU München bei ZDFheute live ein.
    Sehen Sie das gesamte Interview oben im Video oder lesen Sie es hier in Auszügen. Das sagte Zöller ...

    ... über die Koordinierung der zahlreichen Sicherheitsbehörden

    Der Rechtswissenschaftler erinnerte daran, dass es in der Bundesrepublik durch die föderale Struktur eine "Fülle von einzelnen Sicherheitsbehörden" gebe. So haben die Bundesländer eigene Verfassungsschutz-Ämter, eigene Kriminalämter und eigene Verantwortlichkeiten in der Justiz.

    Da ist es gerade zwangsläufig, selbst bei den bestmöglichen Abläufen, dass da Reibungsverluste passieren.

    Mark Zöller, Rechtswissenschaftler

    Sondersitzung Innenausschusse nach Anschlag Weihnachtsmarkt Magdeburg
    Die Aufarbeitung des Anschlags in Magdeburg zieht auch eine Sondersitzung des Bundestags nach sich. Keine Einigkeit gibt es allerdings, ob Gesetze verschärft werden sollten.30.12.2024 | 2:33 min
    Es gebe in Deutschland Stellen, die die Zusammenarbeit der Behörden koordinieren - "zum Beispiel das gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum in Berlin, bei dem zahlreiche Sicherheitsbehörden beteiligt sind". Auch der Fall des Attentäters von Magdeburg, Taleb A., sei dort in der Vergangenheit aufgetaucht. Aber beispielsweise reiche ein Hinweis eines ausländischen Nachrichtendienstes nicht aus, um aktiv zu werden, sagt Zöller.

    Richtig heiß wird so ein Fall erst, wenn das auch noch mit anderen Quellen, vielleicht aus der Bevölkerung durch Anzeigen, zusammengeführt wird. Das ist offensichtlich hier nicht gelungen.

    Mark Zöller, Rechtswissenschaftler

    ... zur ausgebliebenen Reaktion auf Hinweise und Drohungen des Täters

    "Jetzt im Nachhinein macht das alles Sinn, aber das waren ja alles relativ niederschwellige Ereignisse", sagt Zöller über frühere Auffälligkeiten des Täters. "Der hat mal gedroht, dann ist er mal verurteilt worden. Das waren aber keine schwersten Straftaten, mit denen man sich da beschäftigt hat." In einem Zeitraum von zehn bis elf Jahren gingen solche Taten, die "unter einer gewissen Erheblichkeitsschwelle im Einzelfall" lägen, einfach verloren.

    Wir müssen aufpassen, dass wir nicht einen typischen Rückschaufehler machen.

    Mark Zöller, Rechtswissenschaftler

    Der Rechtswissenschaftler weiter: "Wenn man das Feld von hinten aufrollt, macht das natürlich alles Sinn und dann zieht man automatisch den möglicherweise falschen Schluss: Den hätte man doch längst irgendwie im Visier haben müssen. Das ist aber leichter gesagt als getan."
    SGS Zimmermann Sievers 30.12.24
    Auch nach der Ausschuss-Debatte sei klar, dass der Täter von Magdeburg durch alle Raster gefallen sei, so ZDF-Hauptstadtstudioleiterin Diana Zimmermann. Das sei aber keine Entschuldigung.30.12.2024 | 2:18 min
    Taleb A. habe zwar Drohungen bei X (vormals Twitter) veröffentlicht - seien solche Drohungen jedoch unkonkret, sei per se kein Straftatbestand erfüllt, so Zöller.

    Wir müssen uns auch immer klarmachen, wie viel Unsinn jeden Tag im Internet gepostet wird. Und diese feine Linie zwischen tatsächlicher Drohung, Wichtigtuerei oder sonstigen Glaubensbekenntnissen ist eben sehr dünn.

    Mark Zöller, Rechtswissenschaftler

    Erst, wenn jemand wirklich konkrete Vorbereitungen zu einer Tat treffe, könnten die Strafverfolgungsbehörden reagieren. "Aber solange das Stadium nicht erreicht ist, muss man auch sagen: Die Gedanken sind frei. (...) Man kann Menschen nicht für schlechte Gedanken, solange sie die nicht in die Tat umsetzen oder zumindest anfangen, das zu tun, von staatlicher Seite verfolgen."
    Dass nun von Ermittlerseite allerdings gesagt werde, der Täter passe nicht in ein klassisches Täterprofil (Taleb A. war laut den Ermittler beispielsweise weder Islamist noch Rechts- oder Linksextremist), erscheine Zöller wie eine "kleine Ausrede", warum die Behörden ihn nicht auf dem Schirm gehabt hätten.
    ZDF-Hauptstadtkorrespondentin Nicole Diekmann aus dem ZDF-Studio Berlin
    Der Täter ist mehrfach bei den Behörden aufgefallen, erklärt ZDF-Hauptstadtkorrespondentin Diekmann. Mit Vorratsdatenspeicherung wäre der Anschlag dennoch nicht verhindert worden.30.12.2024 | 7:57 min

    ... über die weitere Aufarbeitung des Anschlags in Magdeburg

    Zöller rechnet noch mit "zahlreichen Strafverfahren" wegen fahrlässiger Tötung oder fahrlässiger Körperverletzung.

    Die Verantwortlichen für dieses Sicherheitskonzept und dessen Umsetzung - sei es jetzt bei Stadt, bei Veranstalter, bei Polizei - werden sicher noch stärker in den Fokus der Strafverfolgungsbehörden in Sachsen-Anhalt rücken.

    Mark Zöller, Rechtswissenschaftler

    Bevor weitere Schlussfolgerungen gezogen und etwa über die Erweiterung von Befugnissen für Sicherheitsbehörden debattiert werden könne, sollte nach Ansicht Zöllers zunächst die Aufklärung des Magdeburg-Anschlags im Mittelpunkt stehen.
    Das Interview führte ZDF-Moderator Marc Burgemeister.

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    Quelle: ZDF

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