Grenzübertritt mit Kalaschnikows:Undercover-Ermittler bei der Schleuser-Mafia
von Lukas Augustin und Vanessa Schlesier
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Wer sind die kriminellen Schleuser, die viel Geld mit der Verzweiflung von Geflüchteten machen? Ein Undercover-Ermittler konnte exklusive Einblicke in ihre Geschäfte bekommen.
Hunderttausende suchen in Europa Zuflucht vor Krieg und Vertreibung. In ihrer Not vertrauen sich viele Schlepperbanden an, die sie gegen hohe Summen nach Europa bringen sollen.29.11.2023 | 43:34 min
Subotica in Serbien, nahe der ungarischen Grenze: Das große, braune Eisentor öffnet sich. "Wer seid ihr?", fragt ein Mann in Jogginghose und T-Shirt misstrauisch. "Tamam, tamam." Er telefoniert kurz, dann lässt er Tamer Bakiner und seine Begleitung hinein.
Seit Monaten recherchiert der Undercover-Ermittler Bakiner in der Schattenwelt Europas; das hier war sein Ziel: ein Gästehaus nahe der Grenze zwischen Serbien und Ungarn.
Für die ZDF-Dokumentation "Die Spur: Undercover bei der Schleuser-Mafia" war er gemeinsam mit dem Recherche-Team unterwegs. Er hat dokumentiert, wie Schleuserbanden in Europa agieren.
Münchener Bahnhofsviertel als Schleuser-Umschlagplatz
Seine Spurensuche beginnt in München. Bakiner hat über Monate im Bahnhofsviertel recherchiert und Kontakte aufgebaut, die an verschiedenen Orten seine Legende untermauern. Er gibt sich als ein Immobilienmakler aus, der einen Geschäftspartner sucht, um 60 Flüchtlinge von der Türkei nach Deutschland zu schmuggeln.
In einem Imbiss trifft Bakiner auf einen jungen Mann aus Südosteuropa, der gerade erst mehrere Monate wegen Menschenschmuggels im Gefängnis saß. Offenbar glaubt er Bakiners Legende - und wittert das große Geschäft. Er möchte den Undercover-Agenten seinen Geschäftspartnern vorstellen. "Er wird meine Eintrittskarte in das Netzwerk", ist sich Tamer Bakiner sicher.
Quelle: ZDF/finally
In der neuen Folge des ZDF-Dokuformats "Die Spur" gehen Lukas Augustin und Vanessa Schlesier gemeinsam mit dem Undercover-Ermittler Tamer Bakiner der Frage nach, wie illegale Schleuser-Netzwerke funktionieren.
Treffen mit dem Drahtzieher der Menschenschmuggler
Denn Bakiners Münchner Kontakt möchte ihm nach vielen weiteren Treffen in Serbien den "Big Boss" vorstellen - den Mann, bei dem alle Fäden zusammenlaufen. Für ihn hat er jahrelang Menschen über die Grenze geschmuggelt, für ihn ist der junge Mann aus München sogar ins Gefängnis gegangen.
Der "Big Boss" ist ein vorsichtiger Mann. Geschäfte macht er nur persönlich, auch ein Treffen erfolgt nur auf Empfehlung. Alle paar Wochen wechselt er die Sim-Karte.
In dem Gästehaus im serbischen Subotica trifft Bakiner ihn schließlich, den "Big Boss". "Mit dir möchte ich gern zum Zaun laufen", sagt der Undercover-Ermittler zum Drahtzieher der Schleuser-Bande. "Okay, kein Problem, mach Dir keine Sorgen", antwortet der "Big Boss". Abgeklärt holt er aus:
"Aber nimm nicht zu viel Geld mit. Das gilt auch für die Flüchtlinge," erläutert er weiter. "50 Euro und nicht mehr. Das brauchst Du dann für die Grenzpolizei als Schmiergeld. Nimm nicht mehr als 50 Euro mit. Die schauen sogar in deine Socken. Aber wenn die Polizei dich später in Ungarn erwischt, kommst du in den Knast, das weißt du? Aber mach dir auch da keine Sorgen, für 800 bis 1.000 Euro lassen sie dich wieder gehen."
Mit Kalaschnikows und Steinen bewaffnet zur Grenze
Es ist gerade dunkel geworden, als sich Tamer Bakiner beim Team der "Spur"-Reporter meldet: Der "Big Boss" will ihn mit seinen Leuten und einer Gruppe Migranten und Geflüchteten zur Grenze mitnehmen. Sie steigen in Taxis. Außerhalb der Stadt in einem Wohngebiet neben einem Maisfeld geht es für Tamer zu Fuß weiter. Hunde bellen und immer wieder sind serbische Polizeifahrzeuge zu sehen, die patrouillieren.
Im Camp filmt Tamer Bakiner mit Kalaschnikows bewaffnete Männer. Die Männer, sie sollen Afghanen sein, sollen die Gruppe beschützen, heißt es. Tamer stellt fest, dass seine Gruppe nicht die einzige ist, die in dieser Nacht unterwegs ist.
Den Schleusern zufolge sollen sich zu diesem Zeitpunkt circa 700 Menschen in diesem Waldabschnitt befinden. In einem notdürftigen Camp bereiten sie sich auf den Grenzübertritt vor. Die Männer, die zum Schutz der Gruppe da sein sollen, sammeln Steine.
Grenzpolizei setzt sich mit Tränengas zur Wehr
Der doppelte Grenzzaun wird von ungarischen Grenzpolizisten bewacht. Bewaffnet mit Steinen werden die Grenzfahrzeuge beworfen, um die Fahrzeuge zu beschädigen und die Patrouille zu verhindern. Sobald die Fahrzeuge für einen Moment verschwinden, nutzen die Kriminellen die Chance und bringen Aluleitern, wollen die Menschen über die Grenze lassen. Doch diesmal setzt die Grenzpolizei Tränengas ein, um die Menschen zurückzudrängen. Der Grenzübertritt scheitert.
Weil der "Big Boss" dem Undercover-Ermittler zeigen möchte, dass seine Methode durchaus gelingen kann, ist Tamer Bakiner noch mehrere Male vor Ort. Und beobachtet auch geglückte Übertritte. Die Fahrer der Schleuser warten bereits auf der anderen Seite und bringen sie von der Grenzstadt Tompa bis nach Deutschland.
Fahrer der Schleuser: "Ich schlafe nicht"
"Ich fahre ohne Pause", berichtet einer der Fahrer dem Undercover-Ermittler. "Ich schlafe nicht." Das Geschäft sei lukrativ: "80 bis 90.000 verdiene ich im Monat. Wenn ich die Flüchtlinge auf der anderen Seite des Zauns in Ungarn abhole, kostet das 3.500 Euro." In den vier Jahren, die er das mache, sei er kein einziges Mal erwischt worden.
Die Bundesregierung will mit verschärften Grenzkontrollen und härteren Strafen für Schleuser gegen das gefährliche Geschäft vorgehen. "Wir wollen davon weg, dass Menschen auf Schleusung angewiesen sind", sagt Innenministerin Nancy Faeser im Interview mit ZDF "Die Spur". "Aber dafür brauche ich neue Ordnung. Dafür muss ich europäische Lösungen haben."
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