Mit ihrer Aussage, Europa stehe an Israels Seite, hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einen Streit in der EU ausgelöst. Archivbild
Quelle: Reuters/Florion Goga
Es gibt diese eine legendäre Frage vom früheren US-Außenminister Kissinger: "Wen rufe ich denn an, wenn ich Europa anrufen will?“ Darauf hat Brüssel bis heute keine Antwort gefunden. Gleich mehrere Personen nehmen den Hörer ab, wetteifern um Aufmerksamkeit.
Da ist einmal die Kommissionspräsidentin
Ursula von der Leyen, die große Auftritte und das Rampenlicht liebt. Da ist der EU-Ratsvorsitzende Charles Michel, dessen Wunsch nach Aufmerksamkeit nur noch von seiner Abneigung zu Frau von der Leyen übertroffen wird. Und dann gibt es noch den EU-Außenminister Josep Borrell, der eigentlich für die Formulierung der Außenpolitik zuständig ist, aber das interessiert die anderen beiden nicht. Und so streiten sie.
Selbstverteidigungsrecht gegen Völkerrecht
Israel hat das Recht auf Selbstverteidigung, aber die palästinensische Zivilbevölkerung hat eine Recht auf Schutz. So das Mantra der
EU. Aber hinter dieser simplen Botschaft lauert die Gefahr. Wer betont stärker das Selbstverteidigungsrecht oder stärker das Völkerrecht?
In der EU gibt es zwei Lager. Zum Beispiel weisen Spanien und Frankreich immer wieder auf das Völkerrecht hin und mahnen Israel, nicht zu brutal vorzugehen. Deutschland steht allein schon aus historischen Gründen fest an der Seite Israels.
Von der Leyen: EU braucht zu lange für klare Positionierung
Kommissionspräsidentin von der Leyen weiß um diese Vielschichtigkeit der EU-Nahost-Politik. Aber dies sorgte nicht dafür, dass sie sich zurückgehalten hätte. "Europa steht an Israels Seite", sagte sie bei ihrem Besuch in einem gemeinsamen Statement mit Israels Premier Benjamin Netanjahu.
Der Vorwurf von vielen: Von der Leyen habe in Israel nicht genug über den Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung gesprochen, habe mit ihrer einseitigen Parteinahme außenpolitischen Interessen der Europäischen Union geschadet. Ihr Konter: Die EU-Regierungschefs bräuchten zu lange, um sich klar zu positionieren, sich auf eine gemeinsame Linie zu einigen. Hinter den Kulissen hat es gekracht. Es geht auch um verletzte Eitelkeiten.
Beim virtuellen Treffen der 27 Staats- und Regierungschefs der EU geht es um den eskalierenden Konflikt zwischen Israel und der Hamas.17.10.2023 | 1:38 min
Nahost-Strategie soll festgelegt werden
EU-Ratspräsident Michel und einige Mitgliedsländer nervt es, dass von der Leyen glaubt, für Europa sprechen zu können. Michel hat auch deshalb eine Videokonferenz einberufen. Dort wollen die Regierungschefs die Nahost-Strategie festlegen. Die Kompromissformel lautet: Israel habe das Recht auf Selbstverteidigung im Rahmen des Völkerrechts.
Aber was heißt das für die
Bodenoffensive? Darf Israel im Gaza-Streifen Krankenhäuser in die Luft sprengen, in denen sich die Hamas verschanzt hat und die dort die Patienten als menschliche Schutzschilder missbraucht? Oder was heißt das für die Hilfsgelder an die Palästinenser? Ist die Finanzierung von Wasserleitung weiter erlaubt, auch wenn man weiß, dass die Hamas mit den Leitungen Raketen baut?
"Was dient hier der Abwehr des Angriffs?", fragt Oliver Diggelmann, Professor für Völker- und Staatsrecht an der Universität Zürich, zu den Methoden Israels. Es kommt auf "ganz konkrete Umstände an."17.10.2023 | 7:05 min
Flächenbrand in Nahost droht
Auch bei der Schuldfrage wird es spannend. Die offizielle Lesart in Brüssel: Angesichts des Terrors, den Israel erlebt, verbietet es sich, diese Frage zu stellen. Aber viele sehen in dem israelischen Regierungschef Netanjahu keinen Mann, der den Frieden in der Region sucht. Nur sehr vorsichtig erinnern die EU-Regierungschefs in einer gemeinsamen Erklärung an die Zwei-Staaten-Lösung.
Der Nahe Osten hat etwas von einem biblischen Konflikt. Die Bilanz ist bitter. Wieder einmal droht ein Flächenbrand in der Region.
Europa ist das nicht anzukreiden. So mächtig ist der Kontinent nicht. Aber der Streit zwischen von der Leyen, Borrell und Michel um Aufmerksamkeit und die Meinungshoheit wirkt da wie Sandkastenspiele im Kriegsgebiet. Die eine Telefonnummer für Europas Außenpolitik braucht es immer dringender.
Was ist laut Völkerrecht in Konflikten erlaubt? Der Hamas-Großangriff sei ein Kriegsverbrechen, sagt Völkerrechtler Diggelmann. Auch bei Reaktionen macht er Einschränkungen.