Großbritannien: Wer ist Keir Starmer, der neue Premier?
Machtwechsel in Großbritannien:"No-Drama-Starmer"? So tickt der neue Premier
von Hilke Petersen
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Rishi Sunaks Konservative sind Geschichte. Keir Starmer von der Labour Party ist zum neuen Premierminister ernannt worden. Wer ist der Neue in der 10 Downing Street?
Klarer Wahlsieg für Keir Starmer. Für die Tories brachte diese Wahl die größte Niederlage in ihrer Geschichte. Nun verspricht Starmer den Britten Wandel und Wohlstand. 05.07.2024 | 1:30 min
Großbritannien hat gewählt. Und Keir Starmer holt für die Labour-Partei einen großen Sieg - fast Zweidrittel der Sitze im Unterhaus. Keir Starmer kam spät in die Politik, mit 52. Doch er wollte immer eins: Premierminister werden.
Keir Starmer: Politiker aus einfachen Verhältnissen
Von Beruf ist er Jurist. Menschenrecht und Völkerrecht sind seine Spezialgebiete. Von 2008 bis 2013 war er Leiter der Staatsanwaltschaft von England und Wales. Für seine Verdienste wird er 2013 zum Ritter geschlagen, kann sich seither Sir Keir Starmer nennen.
Quelle: AP
Der 61-Jährige kommt aus der "Working Class", aufgewachsen ist er in der eher konservativ geprägten Grafschaft Surrey. Sein Vater war ein Werkzeugmacher, der sich immer ein wenig unter Wert fühlte, weil er in einer Fabrik arbeitete - so beschreibt es Starmer. Seine Mutter: eine Krankenschwester, die an einer chronischen Krankheit litt.
Im politischen London nennen die Wohlwollenden Starmer einen Pragmatiker, keinesfalls einen Visionär - wie damals Tony Blair, der 1997 einen Riesen-Sieg gegen die Konservativen schaffte mit einer optimistischen Erzählung über "New Labour" und einem Land, das unter ihm modern, cool und progressiv sein würde. Doch die Zeiten jetzt sind andere.
Was die Briten nach dem Wahlsieg der Labour-Party jetzt erwartet, berichtet ZDF-Korrespondent Wolf-Christian Ulrich aus London.05.07.2024 | 1:12 min
Brexit und Corona-Parties haben Spuren hinterlassen
Starmer gilt als Sachpolitiker, seine Leute nennen ihn "No-Drama-Starmer". In den frühen Morgenstunden, als der Sieg in seinem Wahlkreis im nördlichen London ausgezählt ist, sagt er:
"Alles ist hart erarbeitet und hart erkämpft", fügte er hinzu. "Und diese Wahl konnte nur von einer veränderten Labour Party gewonnen werden."
Vor viereinhalb Jahren übernahm Starmer den Labour-Vorsitz, hat die Partei auf einen Mitte-Kurs gebracht, den Links-Drall gestoppt. Nun wird er der vierte Labour-Premierminister in der Geschichte des Landes.
Die Partei von Keir Starmer führt die Umfragen an, er könnte nächstes Jahr Premierminister werden. Thema beim Parteitag in Liverpool ist auch eine erneute Annäherung an die EU.10.10.2023 | 2:01 min
Das Vereinigte Königreich ist erschöpft
Es war die vierte Wahl in Großbritannien in neun Jahren wegen all der Verwerfungen durch den Brexit. 14 Jahre lang haben die Konservativen regiert - und ein ausgehöhltes Land hinterlassen.
Starmer und seine Leute bekommen es mit einem ermatteten Land zu tun, randvoll mit Menschen, die sich nach Brexit und skandalösen Corona-Parties in Downing Street 10 kaum mehr auf die Politik verlassen. Bei vielen ist die Abneigung gegen die politische Klasse weiter gewachsen. Die Wahlbeteiligung ist niedrig, geschätzte 58 Prozent. Der Neue in der Downing Street will das ändern:
"Wir sagten, wir würden das Kapitel beenden, und das haben wir heute begonnen - mit der Mission nationaler Erneuerung beginnen wir, unser Land wieder aufzubauen", so der neue Regierungschef weiter.
In Großbritannien habe sich die Zahl notleidender Kinder in den letzten drei Jahren fast verdreifacht, teilte die Wohltätigkeitsorganisation Joseph Rowntree Foundation mit. 26.10.2023 | 2:10 min
Starmer fährt Mitte-Kurs in Labour Party
Starmer hat aufgeräumt in der Labour-Partei, seit sie ins Straucheln gekommen war unter ihrem vorherigen Vorsitzenden Jeremy Corbyn. Dessen linke Ideen verfolgen Starmer wie Gespenster, die er mit einem Mitte-Kurs loszuwerden versucht - zugleich aber im politischen Spagat, um in der aufgeheizten Stimmung seit dem Krieg in Gaza auch die Wahlkreise zu kriegen, die dominiert sind von muslimischen Wählern.
Dem NHS will Starmer aus der Not helfen, dem schwächelnden nationalen Gesundheitsdienst. Auf dessen Wartelisten stehen fast acht Millionen Patiententermine - auch aufgehäuft durch die dauernden Streiks.
Labour verspricht, dass 18 Wochen nach ihrem potenziellen Regierungsantritt die meisten eine Behandlung werden beginnen können. Geschafft werden soll das demnach durch Arbeit außerhalb üblicher Dienstzeiten und mithilfe privater Gesundheitsdienstleister.
Migration: Abschiebungen nach Ruanda absagen?
In der Brexitfrage war die Labour-Partei damals so gespalten und überkreuz, wie das ganze Land. Bei dem emotionalen Thema konkret zu werden - auch nur über eine mögliche Annäherung an die EU zu reden - hat Starmer vermieden, dämpft aber konsequent Hoffnungen auf baldige Rückkehr in die EU.
In der Migrationspolitik hat Starmer bereits angekündigt, die von der Tory-Regierung geplanten Abschiebungen nach Ruanda keinesfalls durchzusetzen - im Falle seines Sieges. Bisher wurde kein Geflüchteter dahin abgeschoben.
Teuer kommt der sogenannte Ruanda-Plan die Steuerzahler dennoch: Etwa 400 Millionen Euro sind bereits an das ostafrikanische Land überwiesen, etwa für Unterkünfte und die Abwicklung von Asylverfahren.
Biograf zieht Parallele zu Angela Merkel
Obwohl alle Starmer als auffällig nüchtern beschreiben: Tom Baldwin ist sein Biograf und fest überzeugt, dass der Politiker unterschätzt werde. Er hält ihn für den unpolitischsten Politiker, den er je getroffen habe, erzählt er Journalisten gern. Und erinnert dann an Angela Merkel, die auch so ein Fall gewesen sei.
Schon die Kommunalwahlen wurden zu einem Debakel für die konservative Tory-Partei von Premier Sunak.03.05.2024 | 1:34 min
Entgegen Starmers Ruf, kaum emotional zu sein, kann man tatsächlich immer wieder bei seinen Auftritten beobachten, dass er richtig wütend werden kann: Wenn Paare mit zwei Einkommen ihm berichten, sich kein Haus leisten zu können und Menschen ihm von ihren sozialen Härten berichten.
Starmer zieht nun in den Amtssitz in der Downing Street ein - von Staatsoberhaupt König Charles III. wurde er am Mittag mit der Regierungsbildung beauftragt. Starmer hatte bereits angedeutet, die übliche politische Sommerpause ein bisschen nach hinten verschieben zu wollen - angesichts der komplexen Probleme in Großbritannien.
Hilke Petersen ist Korrespondentin und Leiterin des ZDF-Studios in London.
Vier Jahre nach dem Brexit fällt die Bilanz der britischen Wirtschaft nüchtern aus. Viele Briten befürchten weitere Handelseinschränkungen und halten den Brexit für einen Fehler.