Nach Bergkarabach-Flucht:Weshalb Armenier den nächsten Krieg fürchten
von Nina Niebergall
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Armenien und Aserbaidschan sprechen über Frieden. Doch die Armenier halten das für eine Farce. Denn Bakus territoriale Ansprüche reichen weit über Bergkarabach hinaus.
Die Unterwerfung des Gebietes Berg-Karabach im vergangenen Herbst löste eine Massenflucht von 120.000 Karabach-Armeniern nach Armenien aus.
Quelle: dpa
Mkrtich Howhannisjan scheint normalerweise wenig aus der Ruhe zu bringen. Doch eine Frage macht ihn wütend: Ob er seine Heimat Sjunik verlassen will, weil Aserbaidschan hier als nächstes angreifen könnte.
"Nein, nein, nein", antwortet der 61-jährige Farmer. Dann schießt er mit den Fingern in die Luft. Wenn die Aserbaidschaner kommen, werde er eben kämpfen.
Vor vier Monaten eroberte Aserbaidschan die Region im Kaukasus. Fast alle dort wohnenden Armenier waren zur Flucht gezwungen. Doch wie geht es ihnen jetzt?19.01.2024 | 2:36 min
Aserbaidschan will Verkehrskorridor durch Armenien
Sjunik liegt ganz im Süden von Armenien. Die Region grenzt an den Iran, an Aserbaidschan und an die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan. Und genau das ist das Problem.
Denn der autokratische Herrscher Aserbaidschans, Ilham Alijew, will eine Landverbindung zwischen dem Kernland und der Exklave, die mitten durch Armenien führen würde: Der Sangesur-Korridor. Wie die Aserbaidschaner diesen Korridor definieren, entscheidet womöglich über Krieg und Frieden.
Krieg oder Frieden?
Es gibt zwei Szenarien:
1. Die beiden Konfliktparteien finden eine friedliche Lösung
So könnte eine alte Straße wieder geöffnet werden, über die Aserbaidschan Güter und Personen hin und hertransportiert. Wenn es nach den Aserbaidschanern geht, sogar ohne Pass- oder Zollkontrollen. Die Armenier befürchten Waffenlieferungen und lehnen das bislang ab.
2. Aserbaidschan greift den Süden Armeniens an und erkämpft sich so militärisch die Landverbindung
Das hätte massive Konsequenzen für die Menschen, die dort leben. Armenien wäre zudem wirtschaftlich abgeschnitten vom Iran, einem wichtigen Handelspartner.
Hoffnung auf Friedensvertrag
Anfang Dezember deutet viel auf Szenario eins hin, einen Friedensvertrag. Das Büro des armenischen Premierministers Nikol Paschinjan und das des aserbaidschanischen Präsidenten Alijew veröffentlichten ein gemeinsames, wortgleiches Statement. Wenig später gab es einen Gefangenenaustausch.
Mkrtich Howhannisjan glaubt nicht an Frieden.
Quelle: ZDF
Fragt man gut sechs Wochen später Armenier*innen, ob sie einen Friedensvertrag für realistisch halten, bekommt man fast ausschließlich eine Antwort: Nein.
Ende September hat Aserbaidschan Bergkarabach wieder unter seine Kontrolle gebracht. Dort lebten überwiegend ethnische Armenier.
Quelle: ZDF
Aggressive Töne aus Baku
Alijews Rhetorik klingt nicht nach Entspannung, sondern nach neuen territorialen Ansprüchen. So sagte er in einem Interview am 13. Januar, Aserbaidschan habe nicht vor in einem möglichen Friedensvertrag die armenischen Grenzen anzuerkennen.
Er verwies auf Landkarten des frühen 20. Jahrhunderts, auf denen "ganz Sangesur Territorium Aserbaidschans" ist. Und er geht sogar noch einen Schritt weiter:
In Bergkarabach herrscht eine gespenstische Stimmung. Über 100.000 Armenier haben ihre Heimat verlassen. Dauerpräsent ist das Militär und die Polizei Aserbaidschans.04.10.2023 | 6:39 min
Geht Alijew einen Schritt weiter?
Eriwan historisch aserbaidschanisch? Selbst wenn so schnell vermutlich keine aserbaidschanischen Truppen auf die armenische Hauptstadt marschieren werden, sind es Anzeichen, dass Alijew bald mehr wollen könnte als Bergkarabach.
Schließlich gab es nach dem Angriff auf die Kaukasusregion am 19. September 2023 und die anschließende Vertreibung von gut 100.000 Armenier*innen keine internationalen Sanktionen, nicht einmal besonders laute Empörung. Das könnte Alijew ermutigen, noch einen Schritt weiter zu gehen.
Armenien müsse aufrüsten, sagt Politikwissenschaftler Gurgen Simonjan.
Quelle: ZDF
Der armenische Politikwissenschaftler Gurgen Simonjan sieht einen weiteren Krieg als unausweichlich. Er sagt:
Armenien müsse militärisch aufrüsten, um der deutlich stärkeren aserbaidschanischen Armee etwas entgegen setzen zu können. Auch darin sind sich viele Armenier*innen einig: Nach zahlreichen Kriegen gegen Aserbaidschan sind sie im Fall der Fälle bereit, für ihr Land zu kämpfen.
Nina Niebergall berichtet als ZDF-Korrespondentin über Russland, den Kaukasus und Zentralasien.