Ex-Häftling Piwowarow: Wie ist es in russischer Haft?
Interview
Ex-Häftling Piwowarow:Wie es ist, in russischer Haft zu sitzen
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Andrej Piwowarow war Teil des Gefangenenaustauschs zwischen Russland und dem Westen. Wie blickt er auf Haft und Austausch zurück? Und welche Version des Kriegs sah er im Gefängnis?
Geschätzt 130 Jugendliche und junge Erwachsene befinden sich derzeit in russischer Haft. Es sind politische Gefangene, die es gewagt haben, sich gegen das System Putin aufzulehnen.06.09.2024 | 2:20 min
Drei Jahre saß Andrej Piwowarow in Russland in Haft, weil er Oppositioneller war. Aus einem Flugzeug heraus wurde er 2021 in Sankt Petersburg verhaftet und zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Heute lebt er wieder in Freiheit - denn Piwowarow war Teil des spektakulären Gefangenenaustauschs im Sommer.
ZDF: Herr Piwowarow, können Sie uns erzählen, wie Sie Ihre Freilassung erlebt haben? Wann wurde Ihnen gesagt, dass Sie freikommen?
Andrej Piwowarow: Sechs Tage vor dem eigentlichen Austausch geschah etwas Seltsames. Ich wurde nicht wie üblich von rangniederem Personal geweckt, sondern vom Chef der Kolonie. Das war erstaunlich. Ich bekam schnell etwas zu essen, und man sagte mir, ich solle meine Sachen packen. Niemand im Gefängnis sagte mir, wohin man mich bringt. Und so gab es zwei Optionen: Es könnte entweder etwas Gutes passieren, was aber selten vorkommt, oder sie wollen mich erneut verurteilen - diesmal in einem anderen Strafverfahren.
Der Chef sagte nur: "Wenn der Grund unserer Reise ein schlechter wäre, hätten wir anders gepackt."
Andrej Piwowarow bei einer Pressekonferenz nach seiner Freilassung.
Quelle: dpa
ZDF: Wie ging es weiter?
Piwowarow: Man lud mich um sechs Uhr morgens in ein Auto, erst ging es nach Petrosawodsk und dann nach Sankt Petersburg, am nächsten Morgen nach Moskau. Ich war besorgt, denn im Gefängnis erwartet man immer Schlimmes. Ich hatte auch die Sorge, dass sie mich für die Armee zwangsrekrutieren. Aber in diesem Moment, bevor ich nach Moskau verladen wurde, sah ich ein Stück Papier mit dem Namen der inhaftierten Künstlerin Alexandra Skotschilenko. Und ich verstand, dass, wenn eine Frau mitkommt, wir höchstwahrscheinlich nicht zur Armee fahren.
Wir kamen also ins Lefortowo-Gefängnis in Moskau, und es gab vier Tage lang absolut keine Neuigkeiten. Erst am Morgen des 1. August kam der Chef des Gefängnisses in die Zelle und brachte einen Zettel, auf dem stand, dass ich begnadigt worden sei.
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ZDF: Und wann erfuhren Sie von dem Austausch?
Piwowarow: Später, im Bus auf dem Weg zum Flughafen, sah ich Ilja Jaschin, Evan Gershkovich und andere und verstand, dass es sich offenbar um einen Austausch handelt. Während der gesamten Fahrt gab es keine Durchsagen. Kein einziger russischer Beamter, Polizist oder FSB-Offizier hat jemals gesagt, was mit uns passieren würde. Im Flugzeug wurden uns einfach russische Pässe ausgehändigt, und das war's.
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ZDF: Wie ist es, in russischer Haft zu sitzen? Können Sie ein wenig vom Alltag dort erzählen? Gab es Gewalt gegen Sie?
Piwowarow: Politische Häftlinge wie ich werden gesondert behandelt. Ich wurde beispielsweise nicht geschlagen. Aber was sie den politischen Gefangenen antun, ist, sie zu isolieren. Als ich zum Beispiel in Krasnodar ins Gefängnis kam, wurde ich am nächsten Tag nach meiner Inhaftierung in einem Sonderblock eingesperrt - es war wie ein Gefängnis im Gefängnis. Hauptsächlich werden dort Menschen eingesperrt, die Anführer der organisierten Kriminalität sind.
Das heißt, man ist immer allein. Sowohl in der Zelle als auch, wenn man irgendwohin gebracht wird. Dann räumen sie den Korridor, und wenn, Gott bewahre, einer der Sträflinge erwischt wird, wie er mit dir kommuniziert, schreien sie ihn an, er solle dir den Rücken kehren.
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ZDF: Können Sie beschreiben, was diese Isolation mit Ihnen gemacht hat?
Piwowarow: Wenn man isoliert ist, erwarten die Gefängniswärter emotionale Ausbrüche von dir und provozieren dich. Und wenn man als Insasse diese Emotionen zulässt, dann ist es möglich, dass die Behörden eine Gelegenheit finden, neue Strafen zu verhängen. Das heißt, ich musste mich selbst kontrollieren.
Das Unangenehmste ist, dass man sich mental nicht ausruhen kann, weil es Kameras gibt, die einen ständig beobachten. Jede Aktion wird aufgezeichnet. Man muss seine Zunge kontrollieren. Man gewöhnt sich daran. Am schwierigsten ist jedoch die mangelnde Kommunikation.
ZDF: Was haben Sie während Ihrer Haft vom Stand des Kriegs erfahren? Sie hatten ja während Ihrer Haft die Chance, staatliche Nachrichten zu sehen.
Piwowarow: Ich verstand, dass das ein großer Bluff ist. Das Bild, das das Verteidigungsministerium und der Präsident ausstrahlten, ist das Bild, das sie selbst gerne sehen möchten.
Es wird das Bild einer heldenhaften russischen Armee gezeichnet, die jeden Tag Tausende Ukrainer tötet. Das heißt, wenn man dort mitzählt, wie viele ukrainische Truppen in zweieinhalb Jahren vernichtet worden sein sollen, wäre die ukrainische Armee nach Angaben des Verteidigungsministeriums gefühlt mindestens fünfmal vernichtet worden.
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ZDF: Und wie blicken Sie zurück auf Russland? Was ist es heute für ein Land?
Piwowarow: Es ist ein autoritäres Land, in dem es keine grundlegenden Menschenrechte gibt. Was wir jetzt sehen, ist das völlige Fehlen von Gesetzen und das Fehlen einer Zukunft für die Menschen. Natürlich sind die Probleme, die in Russland bestehen, nicht mit dem zu vergleichen, was in der Ukraine geschieht. Dort gibt es Bombardements, Blut und Mord. In Russland gibt es so etwas noch nicht. Aber wir sehen, dass die Gesellschaft in Russland ohnmächtig ist.
Das Interview führten Joachim Bartz und Katja Belousova von der Redaktion ZDF frontal.
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