Fernsehrätin Karin Haug freut sich über den großen Zuspruch für den Programmschwerpunkt „80 Jahre Wannseekonferenz". Gerade bei ehrgeizigen Projekten regt sie allerdings eine Evaluierung des Sehverhaltens und Sehverständnisses im Nachhinein an.
#Fernsehrat: Der Fernsehfilm „Die Wannseekonferenz" aus dem Programmschwerpunkt „80 Jahre Wannseekonferenz" hatte bei der Erstausstrahlung fast 6 Mio. Zuschauer und weitere zwei Mio. Sichtungen in der Mediathek. Auch andere Angebote wurden hunderttausendfach abgerufen. Wie zufrieden sind Sie mit dieser Nutzerresonanz?
Karin Haug: Ganz grundsätzlich ist ein hoher Zuspruch immer auch ein Lob für die Arbeit der Programmschaffenden. Gute Quoten sagen aber nichts über die Art und Weise dessen aus, wie die Inhalte aufgenommen werden. Gerade bei historischen Stoffen sind Wissenstransfer und auch das Verstehen eine echte Herausforderung. Haben diejenigen, die „Die Wannseekonferenz“ gesehen haben, verstanden, wie ein bürokratischer Apparat vor dem Hintergrund antisemitischer Vorurteile funktioniert? Wurden Parallelen zu heutigen Settings erkannt? Ist der systemische Charakter deutlich geworden? Nutzerresonanz ist eine statistische Zahl, die absolut gar nichts über die Interpretationen des Stoffes am heimischen Bildschirm sagt. Es mag durchaus Zuschauer*innen geben, die „Die Wannseekonferenz“ aus Gründen nationalsozialistisch orientierter Bewunderung gesehen haben – auch diese Zuschauer*innen werden in den Zahlen erfasst. Den Zusammenhang zwischen hohen Zuschauer*innenzahlen und Qualität finde ich bereits bei anspruchsloseren Formaten schwierig. Ich denke, dass wir uns im Fernsehrat Gedanken machen müssen, wie wir mit Nutzerresonanz zukünftig umgehen wollen; gerade bei ehrgeizigen Projekten sollten wir über eine Evaluierung nachdenken - also eine Nachuntersuchung des Sehverhaltens und Sehverständnisses. Die entsprechende Vorlage werden wir im Plenum sicherlich in diese Richtung diskutieren.
#Fernsehrat: Eine flankierende Online-Begleitung der TV-Formate will vor allem jüngere Menschen für das Thema "Holocaust" sensibilisieren und sie mit dieser Thematik in Berührung bringen. Was braucht es aus Ihrer Sicht, damit dieser Ansatz gelingen kann?
Haug: Menschen, deren familiäre Erfahrungen in die Nazizeit länger als zwei Generationen zurückliegen, tun sich schwer mit dem Thema. Ihnen sind der Nationalsozialismus, seine Entstehung und seine Folgen, genauso nah oder entfernt wie das Mittelalter oder die Kolonialzeit. Nach meiner persönlichen Beobachtung haben Gedenkstätten, Schulen und auch Museen Probleme damit, dass die Authentizität ihrer Arbeit sich verändert. Spätestens wenn die letzten Zeitzeug*innen nicht mehr leben, werden generell neue Formen der Erinnerungskultur entwickelt werden müssen. Das sehe ich aber als Chance für die Medien: die Erinnerungskultur zu modernisieren und an die Erfahrungen der jüngeren Generation anzupassen. Die Vielfalt der Erinnerungen spielt dabei eine große Rolle, weil diese in einem Schulbuch oder einem Museumsexponat nur bedingt funktioniert. Doch ohne sorgfältige wissenschaftliche Begleitung können solche Projekte nicht gelingen. Vor allem der Dialog mit den Nutzer*innen muss personell auskömmlich gestaltet sein. Andererseits mache ich mir nichts vor: das Internet ist voller Hass und Nazi-Propaganda. Die verschwindet nicht durch ein Projekt.
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#Fernsehrat: Verschiedene Inhalte wurden der Allgemeinheit unter der freien CC-Lizenz beispielweise für Schulen und den Geschichtsunterricht zur Verfügung stellt. Welche Vorteile sehen Sie darin – oder sind Sie hier skeptisch?
Haug: Bewegtbild hat gegenüber schwarz-weißen historischen Aufnahmen den Vorteil, dass es lebendiger und plastisch ist. Durch die Ergänzung virtueller Nachbauten und visueller Erklärungen ist es im pädagogischen Zusammenhang bei der Vermittlung historischer Ereignisse von großem Wert, da so Emotionalität und Identifizierung ermöglicht wird. Ich begrüße es ausdrücklich, dass das ZDF die Inhalte zur freien Verfügung stellt. Ohne komplizierte Verfahren und unentgeltlich können alle Nutzer*innen an öffentlich-rechtlichen Inhalten, deren Produktion sie schließlich auch finanziert haben, teilhaben. Sie können diese teilen, in Vorträge und Diskussionen einbauen und bei privaten Debatten nutzen. Das begrüße ich ausdrücklich.
#Fernsehrat: In der vergangenen Sitzung des Fernsehrates wurden aus der Mitte des Gremiums das Bewusstsein für Antisemitismus in Redaktionen kritisch hinterfragt, ist das ein Thema für das ZDF?
Haug: Antisemitismus zersetzt unsere Gesellschaft; darum sind seine Thematisierung und Entkräftung eindeutig Bestandteil des Sendeauftrags des ZDF. Ich erwarte einfach, klare Kante zu zeigen in Programm und auch in den Redaktionen. Das ist keine Eintagsfliege, sondern sollte sich in allen Formaten niederschlagen.
Zur Person: Nach Studium in Konstanz und Stationen in Köln, Bremen, Magdeburg und Schwerin ist Dr. Karin Haug seit 2020 freie Journalistin in Flensburg.