Leben im Mehrgenerationenhaus: Nachbarschaft neu gedacht
Leben im Mehrgenerationenhaus:Nachbarn, die mehr als Nachbarn sind
von Saskia Schüring
|
Zusammenleben zwischen Jung und Alt: Ein Mehrgenerationenhaus in Dormagen macht das vor. Es wird gespielt, gekocht, gewerkelt und einander geholfen. Manchmal fließen auch Tränen.
Wie sieht das Leben in einer Mehrgenerationen-Wohnanlage aus?17.07.2023 | 4:53 min
Wie immer mal wieder, ist die Kita außerplanmäßig geschlossen. Stefanie (36) und Chris (34) Günther brauchen kurzfristig eine Betreuung für die fünfjährige Zoe und den dreijährigen Robin, doch die Großeltern wohnen weit weg. Nun schauen sie, ob im Netzwerk mit den Nachbarn Hilfe möglich ist. "Das klappt auch meistens ganz gut", erzählt Chris Günther.
Mehrgenerationenhaus als kleines Experiment
Genau deshalb wohnen die Günthers seit fünf Jahren in einem Mehrgenerationenhaus in Dormagen bei Düsseldorf mit 23 Mietparteien. Die Bewohner sind zwischen einem und 89 Jahren alt.
Ein besonderes Mehrgenerationen-Wohnprojekt auf Gut Mydlinghoven in Düsseldorf:
Bewohnerin: Ein WG-Leben mit Rückzugsort
Eine Verpflichtung gibt es nicht, aber man hilft sich untereinander. "Im Endeffekt ist es wie ein WG-Leben, nur dass du deine Wohnung hast, um dich zurückzuziehen, aber man hat totale Entlastung im Alltag", ergänzt Stefanie Günther.
Die Jüngeren erledigen gern mal Einkäufe für die, die nicht mehr so mobil sind wie die 62-jährige Christa Greifenberg, die im Rollstuhl sitzt. Sie kümmert sich dafür um die Kinder. Das halte sie jung.
Mehrgenerationenhäuser werden von der Bundesregierung gefördert. 530 Projekte gibt es in ganz Deutschland verteilt. "Ganz gleich, ob sie zum Beispiel Unterstützung bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf brauchen, sich engagieren wollen oder einfach Gesellschaft suchen - hier treffen Angebote auf Bedarfe", so die Familienministerin Lisa Paus (Grüne) im Bundesprogramm.
Nawodo - das steht für Nachbarschaftliches Wohnen Dormagen - ist eine kleine Genossenschaft im rheinländischen Dormagen bei Düsseldorf. Jedes Mitglied hat für 600 Euro pro Quadratmeter einen Anteil der Anlage gekauft und zahlt eine vergleichsweise günstige Miete von unter zehn Euro.
Das Mehrgenerationenhaus als Altersvorsorge
Direkt über den Günthers wohnt seit einem halben Jahr Kathrin Callies (34). Alleinerziehend, berufstätig mit dem anderthalbjährigen Jonas. "Also für mich ist es toll, Teil einer Gemeinschaft zu sein, wo man sich einbringen kann. Und gleichzeitig hat man das Gefühl, nicht allein zu sein", sagt Callies.
38 Erwachsene und 16 Kinder vom Baby bis Teenager leben hier. Gut überschaubar von den Balkons ist es ein Spielparadies für die Kleinen.
Gemüse und Obst im eigenen Garten anzubauen, ist ein Trend in Deutschland. Die eigene Farm verspricht Unabhängigkeit und mehr Gesundheit. Der Weg zur Selbstversorgung ist steinig.20.06.2022 | 28:53 min
Die eigene Farm - Selbstversorgen lernen:
Gemeinsam leben, gemeinsam entscheiden
Prinzipiell wird im Mehrgenerationenhaus alles selbst verwaltet und gemeinsam entschieden: was gebaut oder gepflanzt wird, wer einziehen darf. Die Erwachsenen engagieren sich in verschiedenen Gruppen: Chris Günther ist für den Multifunktionsraum zuständig, hier können Fahrräder repariert, Möbel geschreinert und Sachen getöpfert werden, die Werkzeuge haben alle zusammengetragen.
Kathrin Callies kocht einmal im Monat mit anderen für rund 20 Leute, dafür bekommt sie zweimal pro Woche warmes Essen frei Haus.
Viele Dörfer haben keine typische Kneipe mehr, obwohl das oft der einzige Treffpunkt im Ort ist. In Dieringhausen im Oberbergischen Land ist die alte Kneipe jetzt zur Genossenschaft geworden und hat mehr Zulauf denn je.30.05.2023 | 1:43 min
"Manchmal fließen auch Tränen"
Natürlich sei nicht immer alles Friede, Freude, Eierkuchen, sagt Callies: "Wenn so viele Charaktere aufeinander kommen, kann sich nicht jeder mit jedem gut verstehen. Manche Leute denken, wir sind eine Kommune hier, aber das nicht der Fall."
Im Konfliktfall helfen Streitschlichter. In den fünf Jahren seit Bestehen der Genossenschaft gab es nur zwei Auszüge.
Nicht einsam, sondern in Gemeinschaft im Rentenalter leben: Alternative Wohnprojekte gibt es immer mehr. Das Passende zum richtigen Zeitpunkt zu finden, ist aber schwer.05.04.2022 | 28:44 min
Seniorenheim oder Wohnprojekt? Über einen Neustart mit 60 +:
Gemeinsam statt einsam
Auch die Ältesten bringen sich ein, so gut sie können. Der fast 90-jährige Bernward ist für die Kinder eine Art Großvater. Wenn sie täglich bei ihm vorbeischauen, um sich ihr Gummibärchen abzuholen, bekommt der fast blinde, aber noch recht bewegliche Herr oft spannende Geschichten aus der Welt der Kinder zu hören. Angst vor Vereinsamung hat er nicht.
Pflege gehört allerdings nicht zu den Gemeinschaftsaufgaben. "Gemeinsames Leben ist kein Gruppen-Zwang, sondern freiwillig. Das ergibt sich einfach so", sagt Stefanie Günther:
Im Sommer sind Hof und Garten oft gut besucht. Eine gute Gelegenheit, das Betreuungsproblem anzusprechen. Die alleinerziehende Kathrin Callies wird den Günthers diesmal aus der Patsche helfen. Für die Günthers ist das hier wahrscheinlich nur eine Lebensphase, bis die Kinder aus dem Haus sind. Für viele andere aber ist das Mehrgenerationenhaus ein Lebensprojekt.
Bezahlbarer Wohnraum ist knapp - gerade in Ballungsräumen steigen die Mieten immer weiter. Wie teuer Wohnen in großen Städten in den letzten 20 Jahren geworden ist.