Zwangsbehandlungen auch außerhalb von Kliniken

    Bundesverfassungsgericht:Zwangsbehandlung auch außerhalb von Kliniken

    von Christoph Schneider und Samuel Kirsch
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    Ärztliche Zwangsmaßnahmen gegenüber betreuten Menschen dürfen nur im Krankenhaus stattfinden. Bisher: Denn das Bundesverfassungsgericht fordert nun Ausnahmen.

    Der Erste Senat des Bundesverfassungsgericht, (l-r) Yvonne Ott, Stephan Harbarth, Vorsitzender des Senats und Präsident des Gerichts, Josef Christ, Ines Härtel, verkündet das Urteil zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen
    Bislang dürfen medizinische Zwangsmaßnahmen gegen den Willen der Betroffenen nur im Krankenhaus durchgeführt werden. Das muss sich ändern, urteilte das Bundesverfassungsgericht.26.11.2024 | 2:26 min
    Es ist das letzte Mittel, wenn nichts anderes mehr geht: Menschen, die wegen einer Krankheit oder einer Behinderung betreut werden, dürfen auch gegen ihren Willen ärztlich behandelt werden. Ein schwerwiegender Eingriff in ihre Willensfreiheit, der aber unter strengen Voraussetzungen rechtlich zulässig ist, um erhebliche Gesundheitsschäden abzuwenden.
    Es geht beispielsweise um Menschen mit einer geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung, die die Einnahme von dringend benötigten Medikamenten verweigern, oder um Demenzkranke, die eine Dialyse brauchen, aber ablehnen.

    Gericht beschließt Behandlung aufgrund von Gutachten

    Für sie kann ein Betreuer solche Zwangsmaßnahmen beantragen. Ein Gericht entscheidet auf Grundlage von Gutachten, ob trotz des entgegenstehenden Willens des Patienten die Behandlung durchgeführt wird - notfalls unter Zwang, das heißt beispielsweise, indem Patienten fixiert werden.
    Für solche Maßnahmen gilt strikt: Sie dürfen ausschließlich im Krankenhaus im Rahmen eines stationären Aufenthalts stattfinden, nicht zu Hause und auch nicht in Pflegeheimen oder anderen Einrichtungen.
    Doch dieses strikte Konzept ist so nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, so der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts. Denn die gesetzlichen Regelungen sehen hier keinerlei Ausnahmen außerhalb des Krankenhauses vor, so das höchste deutsche Gericht. Doch die müssten möglich sein. Beispielhaft geht das Gericht auf an Demenz erkrankte Patientinnen und Patienten ein, bei denen ein Umgebungswechsel besondere Gefahren hervorrufe. Und: Es könnte zu einem gesteigerten Risiko von Infektionskrankheiten kommen. Deswegen muss das Gesetz geändert werden - bis Ende 2026.
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    Umstritten: Ambulante Zwangsbehandlung

    Die ausnahmslose Klinik-Pflicht war schon umstritten, sowohl unter Betreuern, als auch unter Ärzten und Betroffenen. Auch der Bundesgerichtshof (BGH), das oberste deutsche Gericht in Betreuungsfragen, hielt die Gesetzesvorschrift für zu eng, legte den Fall dem BVerfG vor. Das folgte nun den Karlsruher Kolleginnen und Kollegen.
    Die Bundesregierung will das Urteil jetzt sorgfältig prüfen, äußerte sich noch nicht zum Karlsruher Spruch. Der juristische Vertreter der Regierung, der Medizinrechtler Professor Volker Lipp, sagte nach der Urteilsverkündung, dass man sich ein anderes Ergebnis gewünscht hätte, damit jetzt aber umgehen werde.
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    BAG Selbsthilfe sieht "keinen Dammbruch"

    Rüdiger Hannig von der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V. (BAG Selbsthilfe) sieht in dem Urteil "keinen Dammbruch". Aber der gesetzlichen Neuregelung sieht er mit großer Spannung entgegen.
    Schon vor dem Urteil hatte sich Klaus Lieb, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz, geäußert. Er kann sich im Ausnahmefall Behandlungen auch außerhalb von Kliniken vorstellen.

    Wenn es dem Patientenwohl dient - also wenn zum Beispiel eine Patientin damit nicht immer wieder monatlich in die Klinik gebracht werden muss und die Zwangsbehandlung immer gut funktioniert - dann kann ich mir vorstellen, dass die Maßnahme auch außerhalb von Kliniken durchgeführt werden kann.

    Professor Klaus Lieb, Universitätsmedizin Mainz

    Insbesondere wenn die Zwangsmaßnahmen initial in der Klinik begonnen würden und man gute Erfahrungen mache, könne die Behandlung im Einzelfall aus seiner Sicht auch ambulant fortgesetzt werden, sofern alle medizinischen Standards eingehalten werden, so Lieb im Gespräch mit ZDFheute.
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    Gesetzgeber ist am Zug

    Das könnte mit einer gesetzlichen Neuregelung dann möglich sein, bei dem der Gesetzgeber auch große Spielräume hat.
    Der muss aber tätig werden und Ausnahmen von der strikten Klinik-Pflicht zulassen, um einzelnen Betroffenen besser gerecht zu werden. Eines bleibt aber klar: Dass Zwangsbehandlungen auch weiterhin nur im absoluten Ausnahmefall und nur unter strengsten Voraussetzungen in Betracht kommen, wird sich nicht ändern.
    Samuel Kirsch und Christoph Schneider sind Redakteure in der ZDF-Redaktion Recht und Justiz.

    Umstrittene Krankenhausreform in Deutschland