Xinjiang Police Files: Wie Peking die Uiguren unterdrückt
2 Jahre "Xinjiang Police Files":Pekings Unterdrückung der Muslime geht weiter
von Elisabeth Schmidt, Xinjiang, China
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Die Zwangsumerziehung in der Uiguren-Region ist laut chinesischer Staatsführung erfolgreich beendet. Unsere Reise nach Xinjiang zeigt: Die Masseninternierungen sind nicht vorbei.
Vor zwei Jahren wurde bekannt, dass in China muslimische Minderheiten – wie die Uiguren – in Umerziehungslagern unterdrückt werden. Ein ZDF-Team reiste nun in die Region Xinjiang.24.05.2024 | 2:52 min
In Tekes in der Region Xinjiang fallen sofort die blauen Zonen-Schilder auf. 403, 404, 405… alle hundert Meter steht ein neues. In Xinjiang im Nordwesten Chinas sind Städte in Raster unterteilt. Die Sicherheitskräfte müssen innerhalb von 60 Sekunden zielgenau eingreifen können, das ist in der Uiguren-Region Vorschrift. Wir sind unterwegs in einer Region, in der Journalisten nicht gern gesehen sind.
Tekes ist ein Kreis im Kasachischen Autonomen Bezirk Ili des Uigurischen Autonomen Gebiets Xinjiang in der Volksrepublik China. Der Kreis liegt am gleichnamigen Fluss Tekes He. Tekes hat eine Fläche von 8079,67 Quadratkilometern und 142.718 Einwohner.
Das Straf- und Umerziehungslager, das wir ansteuern, beginnt in Zone 526. Das Lager wurde in den "Xinjiang Police Files" aus dem Jahr 2022 erwähnt. Auch heute noch ist hier Betrieb. Wachtürme sind besetzt, vor den mit Stacheldraht und Überwachungskameras geschützten Mauern sitzen Sicherheitsleute in schwarzen Jacken und bewachen die Einfahrt. Nach dem Gebäude gefragt, lautet die knappe Antwort nur: "Eine Einrichtung." Wir sollen hier schnell verschwinden.
Am 24. Mai 2022 veröffentlichte ein internationales Konsortium, bestehend aus 14 Medienhäusern, die "Xinjiang Police Files": Mehr als zehn Gigabyte geleakter Dokumente, unter anderem Fahndungslisten muslimischer Minderheiten, Fahndungsfotos, Fotos von Polizeigewalt, Protokolle aus den Straf- und Umerziehungslagern, Reden ranghoher Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas, die alle aus dem Jahr 2018 stammten.
Zu dem Zeitpunkt befanden sich laut UN etwa eine Million Uiguren und Angehörige anderer muslimischer Minderheiten in Xinjiang in Lagern. Ein großer Teil der geleakten Informationen handelt von Lagern in den Regionen Konasheher and Tekes. Der Forscher Adrian Zenz bekam die Dateien anonym zugespielt und gab sie an die Journalisten weiter. Laut Zenz stammen die Informationen von gehackten Computern lokaler Polizeistationen und Straflagern. Es waren die bis dato umfangreichsten Dokumentationen der chinesischen Straf- und Umerziehungspraxis in Xinjiang. Die "Police Files" fanden weltweit Beachtung.
Xinjiang: Folter und Zwangsabtreibung
Vor zwei Jahren kamen bis dahin nie gesehene Fotos von chinesischen Umerziehungslagern ans Licht. Wie ist die Situation im Uiguren-Gebiet heute?22.05.2024 | 6:55 min
Ein paar Meter weiter kommen wir mit einem Uiguren ins Gespräch. Er nennt die "Einrichtung"ein Gefängnis. "Waren Sie auch dort?", fragen wir. "Ja", sagt er. In Zone 898 bis 900 steht ein weiteres ehemaliges Lager. Heute befinden sich hier Schulungsräume der Kommunistischen Partei Chinas.
Dem deutschen Anthropologen Dr. Adrian Zenz wurden die "Xinjiang Police Files" vor zwei Jahren anonym zugespielt.
Folter und Misshandlung
Rakhima Senbay, 37, stammt aus Tekes und hat dort unvorstellbare Qualen erlebt. Wir treffen sie in Almaty, einer Metropole Kasachstans. Hierhin konnte sie fliehen. Sie war schwanger als sie 2017 in Tekes verhaftet wurde.
Senbay erzählt vom so genannten Tigerstuhl mit spitzen Nägeln, auf dem sie befragt wurde, von eiskaltem Wasser, mit dem sie zur Bestrafung fünfzehn Minuten lang abgespritzt wurde, von Hieben mit dem Elektrostock und davon, dass sie nach den Misshandlungen heute keine Kinder mehr bekommen kann.
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Freunde und Verwandte sind verschwunden
Rakhima Senbay ist nach einem Jahr Haft entlassen worden, hat inzwischen die kasachische Staatsbürgerschaft. Bis heute bangt sie um ihren jüngeren Bruder, der in Xinjiang im Gefängnis sitzt. Der Kontakt zu ihm ist abgebrochen.
Gaukhar Kurmanaliyeva, 57, demonstriert jeden Tag vor dem chinesischen Konsulat in Almaty für die Freilassung ihres Verwandten Asiha. Er wurde 2018 in Xinjiang festgenommen und zu 20 Jahren Haft verurteilt. Der Vorwurf: Spionage für Kasachstan. "Er hat nur ein Foto vom chinesischen Fluss Ili gemacht, das war reine Willkür", sagt Kurmanaliyeva.
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China bestreitet Menschenrechtsverletzungen
Die chinesische Staatsführung streitet die Menschenrechtsverletzungen bis heute als westliche Lügen-Kampagne ab. Die Zwangsumerziehungen nennt sie "Deradikalisierung" muslimischer Terroristen und die Lager "Bildungszentren". Prof. Björn Alpermann, Xinjiang-Forscher an der Universität Würzburg schätzt, dass bis heute mehrere hunderttausend Uiguren und Kasachen langjährige Haftstrafen absitzen oder in Zwangsarbeit sind. "Es gibt ganz viele uighurische Intellektuelle, Wissenschaftler*innen, Forscher, Künstler, die verschwunden sind, von deren Verbleib wir nichts wissen.", sagt Alpermann.
Auf unserer Reise nach Xinjiang bemerken wir, dass kleine Kinder mit ihren uighurischen Großmüttern auf der Straße Mandarin und nicht Uigurisch sprechen. Zum Freitagsgebet in Ürümqi kommen fast ausschließlich ältere Männer. Vor einem Gotteshaus steht ein gepanzertes Fahrzeug mit Soldaten, die Maschinengewehre tragen, alle paar hundert Meter eine Polizeistation. In keiner anderen chinesischen Provinz ist der Polizeistaat so sichtbar. Zwei Jahre nach Veröffentlichung der "Xinjiang Police Files" gibt es in der Uiguren-Provinz "Religionsfreiheit" nur zu Chinas Konditionen.
Elisabeth Schmidt ist ZDF-Ostasienkorrespondentin und arbeitet im Studio Peking.
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