Verteidigungsfähig auch ohne USA:Was Europa für seine Sicherheit tun muss
von Christian Mölling, Torben Schütz
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Die Sicherheitsversprechen der USA für Europa scheinen kaum zukunftsfähig. In welchen Bereichen Europa nun dringend nachrüsten muss, um verteidigungsfähig zu bleiben.
Nach dem Stopp der US-Militärhilfen für die Ukraine sucht die EU nach Antworten. Beim Sondergipfel beraten die Staats- und Regierungschefs über Europas Sicherheit.06.03.2025 | 1:55 min
Der Kurs der Administration von Donald Trump weckt massive Zweifel, ob die US-Regierung ihre Sicherheitszusagen für Europa aufrechterhält. Angesichts dieser tiefgreifenden Veränderungen und der existenziellen Bedrohung durch einen möglichen neuen Krieg auf dem Kontinent muss sich Europa darauf vorbereiten, seine wesentlichen Verteidigungsaufgaben - Abschreckung, Verteidigung und Unterstützung der Ukraine - mit begrenzter oder gar ohne US-Hilfe zu erfüllen.
Eine Übergangsstrategie hin zu einer europäischen Verteidigungsfähigkeit ist notwendig. Neben einem anderen Umgang mit Kriegsführung, Rüstungsindustrie und Finanzierungsfragen erfordert dies vor allem neue Formen politischer Führung, um Europas Sicherheit zu gewährleisten.
Der EU sei klar: Man könne sich nicht auf die USA verlassen, so ZDF-Korrespondent Ulf Röller. Daher sei man bereit, viele Schulden zu machen und eine Rüstungsindustrie aufzubauen.06.03.2025 | 5:18 min
Geld und Material ersetzen keine Führung
Einige europäische Entscheidungsträger scheinen zu glauben, dass der US-Rückzug einfach durch den Kauf von Waffen kompensiert werden könne. Tatsächlich müsste Europa drei zentrale Elemente der US-Fähigkeiten ersetzen:
Feuerkraft,
Enabler (C4ISTAR, das heißt Aufklärung, Führung, Überwachung, Zielerfassung)
Nukleare Abschreckung
Bevor jedoch Ausrüstung beschafft wird, muss zunächst jene politische und militärische Führung ersetzt werden, die die USA über Jahrzehnte hinweg bereitgestellt hat. Ohne klare Entscheidungsinstanz ist zusätzliche Bewaffnung zwecklos.
Angesichts der Annäherung von Präsident Trump und Kreml-Chef Putin solle die EU in die eigene Rüstungsindustrie investieren und nicht in die der USA, so Militärexperte Nico Lange.06.03.2025 | 22:46 min
Bausteine europäischer Verteidigungsfähigkeit
Eine europäische Verteidigungsstrategie muss zu den europäischen Streitkräften, der politischen Kohärenz und den verfügbaren Ressourcen passen. Veränderungen betreffen operative Konzepte, Rüstungsstrukturen und militärische Zusammenarbeit - ein tiefgreifender Wandel, der zudem starke Investitionen erfordert.
Die Autoren der Militäranalyse:
Quelle: DGAP
... leitet das Programm "Europas Zukunft" für die Bertelsmann Stiftung in Berlin. Er forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement. Für ZDFheute analysiert er regelmäßig die militärischen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt.
Quelle: DGAP
Torben Schütz ist Senior Expert im Programm "Europas Zukunft" der Bertelsmann Stiftung mit dem Schwerpunkt Europäische Sicherheitspolitik. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die deutsche und europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie militärische Fähigkeiten und Fragen der Rüstungsindustrie.
1. Politische Führung: europäisch, nicht rein EU-basiert
Für eine wirksame Strategie braucht Europa eine einheitlichere politische Steuerung. Eine einzige Führungsmacht ist unrealistisch; vielmehr soll ein Zusammenschluss entscheidungswilliger Staaten entstehen, der ein Gleichgewicht zwischen politischer Macht und geografischer Verteilung schafft.
Auch divergierende Interessen in Europa müssen berücksichtigt werden. Ein möglicher Ansatz ist das E5plus-Format, an dem Frankreich, Deutschland, Italien, Polen und das Vereinigte Königreich beteiligt sind. Die Ukraine sollte ebenfalls eingebunden werden. Institutionen der Europäischen Union könnten sich bei Finanzierung, Politikkoordination oder Binnenmarkt einbringen.
"De facto haben die Amerikaner bereits begonnen, das transatlantische Bündnis massiv zu zerstören", so die ehemalige Nato-Chefstrategin Stefanie Babst zu den ausgesetzten Militärhilfen.04.03.2025 | 6:05 min
Die Umsetzung politischer Ziele in militärische Optionen kann weiter über die Nato erfolgen, selbst wenn die USA sich faktisch zurückziehen. Neue Strukturen sind nicht zwingend nötig; die eingeübten NATO-Verfahren können weiter genutzt werden.
Das erhält Routine im Umbruch. Falls die USA nicht nur desinteressiert, sondern feindselig agieren, müssten Europäer eventuell US-Anteile an der Nato-Infrastruktur aufkaufen oder alternative Kommandostrukturen aufbauen.
In den aktuellen Nato-Plänen übernehmen die USA rund 40 Prozent der militärischen Last. Ohne Washington fällt Europa auf etwa 50 Prozent der benötigten Gesamtfähigkeiten zurück. Zur Sicherung des Kontinents müssen Europäer US-Militärkapazitäten ersetzen, neue Verteidigungspläne entwickeln. Drei Hauptprobleme ergeben sich:
Kurzfristig fehlen kritische Hochwertfähigkeiten, zum Beispiel für Präzisionsangriffe auf lange Reichweite, Aufklärung und Führung
Der Krieg in der Ukraine stellt westliche Konzepte der Kriegsführung in Frage (zum Beispiel Luftherrschaft, Manöverkriegsführung). Eine europäische Neujustierung könnte beispielsweise mehr statische Verteidigung, stärkere landbasierte Feuerkraft und angepasste Logistik erfordern
Neue Verteidigungspläne sollten die Rolle der Ukraine, die Russland stark unter Druck setzen kann, voll einbeziehen
In Polen ist die Sorge vor einer Abkehr der USA von Europa besonders groß. Das osteuropäische Land an der Ostflanke der Nato hat zuletzt deutlich aufgerüstet.06.03.2025 | 1:50 min
4. Nukleare Abschreckung
Die nukleare Abschreckung ist bislang Teil der Verteidigungskonzeption. Bislang basierte sie auf der Garantie der USA. Künftige Optionen sind:
Fortbestehen der nuklearen Abschreckung durch die USA
Regionale Abschreckung durch europäische Staaten
Verzicht auf eine nukleare Option (außerhalb der bereits vorhandenen britischen und französischen Kapazitäten)
Eine Mischform aus europäischer und US-Abschreckung
Die Optionen 1 und 4 dürften durch das nachlassende Vertrauen in die USA erschwert sein. Sollte Europa sich zu einer eigenen Nuklearoption entschließen, entstünde eine riskante Übergangsphase, in der Russland Vorteile hätte.
5. Operative Fähigkeiten: Masse und Qualität
Die Defizite der europäischen Streitkräfte umfassen nicht nur die oft genannten "Enabler", sondern auch die notwendige Masse an Truppen, die rasch kampfbereit sein müssen (zwei Korps, circa 100.000 bis 120.000 Soldatinnen und Soldaten). Zudem müssen Europäer eine eigene Kommunikations-Aufklärungs-Bekämpfungs-Kette aufbauen, um hochpräzise Aufklärung, Zielerfassung und Führung zu ermöglichen.
Nach dem Eklat im Weißen Haus nähern sich die USA und die Ukraine wieder an. Gleichzeitig haben die USA den Druck erhöht: Sie liefern wohl keine Geheimdienstinformationen mehr.06.03.2025 | 0:28 min
6. Industrielle Fähigkeiten
Europa verfügt über eine große Rüstungs- und Technologiebasis, um die meisten Waffensysteme selbst zu bauen. Das Problem ist eher der Zeitfaktor: gewisse US-Technologien, Ersatzteile und Munition (etwa für Patriot) werden kurzfristig weiter benötigt. Wo nötig, kann auch auf dem Weltmarkt beschafft werden. Personalknappheit bremst zudem die Hochskalierung europäischer Produktionskapazitäten. Zusätzlich ist eine engere Zusammenarbeit mit der ukrainischen Industrie denkbar, um Europas eigene Verteidigungsbereitschaft zu stärken.
Der Weg zu einer europäischen Verteidigungsfähigkeit sollte in zehn Jahren abgeschlossen sein, mit einer Fünf-Jahres-Planung für erste Einsatzfähigkeit. Europa hat das Können und die Ressourcen, um die neue Verletzlichkeit zu managen. Ein Scheitern würde das Risiko eines weiteren Krieges in Europa erheblich erhöhen.
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.