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Interview
Nach dem Machtwechsel in Polen:Experte zieht Bilanz: "PiS hat viel Böses getan"
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Jahrelang bauten die Rechtspopulisten von PiS-Parteichef Kaczynski Polen um. Seit einem Jahr ist Donald Tusk Ministerpräsident. Ein polnischer Soziologe zieht eine erste Bilanz.
Polens Streit mit Brüssel ist vorbei - und sonst? Andrzej Rychard ist ein Kenner der polnischen Politik. Der Soziologe und Direktor des Instituts für Philosophie und Soziologie der Polnischen Akademie der Wissenschaften beobachtet seit Jahrzehnten die Regierungen Polens - auch die neue unter Donald Tusk.
ZDFheute: Wie war das erste Jahr der Regierung von Donald Tusk?
Andrzej Rychard: Ich denke, dass die Bilanz insgesamt gut ist, insbesondere wenn man sieht, was diese Regierung vorgefunden hat. Das war ein Jahr, in dem wir immer wieder feststellen mussten, wie tief der Staat und die Rechtsstaatlichkeit von der Vorgängerregierung zerstört worden sind. Die PiS hat viel Böses getan.
Aber es wäre irreführend zu glauben, dass all dieses Böse in Gerichtssälen behoben werden kann. Das ganze riesige Netz von Stiftungen und Vereinigungen, die von der PiS-Partei gegründet wurden, die, obwohl sie legal waren, in Wirklichkeit hauptsächlich dazu dienten, öffentliche Gelder in die Taschen der Partei zu transferieren. Die PiS hat sogar einen zivilisatorischen Wechsel umgesetzt. Deswegen diese Änderungen legal rückgängig zu machen, ist extrem schwierig, mühsam und zeitaufwendig. Und das könnte manchmal den Eindruck erwecken, dass alles zu lange dauert.
Zu den Errungenschaften gehört, dass Polen sich seinen Platz in Europa zurückerobert. Was vor allem bei den aktuellen Bedrohungen der europäischen Sicherheit sehr wichtig ist.
Andrzej Rychard
ZDFheute: Warum ist der Prozess der Rückkehr zum Rechtsstaat so kompliziert?
Rychard: Es ist sehr schwierig, etwa, weil es Amtszeiten gibt, die nicht verkürzt werden können - von verschiedenen Personen an der Spitze von Gremien, wie zum Beispiel dem Verfassungsgericht, das sehr fragwürdig ist. Man kann nicht das Recht verlassen, um dieses Recht zu reparieren. Erwarten wir nicht einen großen Knall, eine Art Schlag, wenn es um die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit geht. Wir sollten die Methode der kleinen Schritte wählen.
ZDFheute: Tusk schafft keine Liberalisierung des Abtreibungsrechts. Verprellt das die Frauen als Wähler?
Rychard: Ich denke, dass das Thema Abtreibung - und zumindest die Entkriminalisierung der Abtreibung - eines der Themen ist, bei denen das Gefühl der Enttäuschung sehr ausgeprägt sein kann.
Es ist ein Gefühl der Enttäuschung bei den Gruppen, die maßgeblich zum Sieg beigetragen haben.
Andrzej Rychard
Junge Menschen, Frauen: Sie gingen in ungewöhnlich hohem Maße zu den Wahlen, verglichen mit ihrer früheren Beteiligung. Sie haben ein Recht darauf, sich verbittert zu fühlen.
ZDFheute: In Sachen Migration will Tusk das Asylrecht teilweise aussetzen. Spielt er mit der Angst?
Rychard: Nein, es ist kein Spiel mit der Angst. Denn es ist ein Versuch, Ängste und Befürchtungen über die Situation jenseits der polnischen Ostgrenze abzubauen. Wissen Sie, wenn es hier wirklich Angst gibt, dann ist diese Angst in einem Teil der Gesellschaft berechtigt. Deshalb ist es umso besser, je mehr wir gemeinsam mit Europa versuchen, Spannungen, Unsicherheiten und Ängste im Zusammenhang mit Sicherheitsbedrohungen abzubauen. Denn es geht nicht darum, eine illusorische Angst zu schüren. Das ist einfach eine Tatsache.
An unserer Ostgrenze tobt ein Krieg, der von einem Land entfesselt wird, das vielleicht unbegrenzte Ambitionen hat, zu einer imperialen Politik zurückzukehren.
Andrzej Rychard
ZDFheute: Die Präsidentschaftswahl wird im Mai 2025 stattfinden. Was ist danach zu erwarten?
Rychard: Meiner Meinung nach würde ein Wahlsieg der Bürgerkoalition (mit Tusks Kandidat, Warschaus Oberbürgermeister Rafal Trzaskowski, Anm. d. Red) eine Art Abschluss des Demokratisierungs- oder Re-Demokratisierungs-Prozesses in Polen bedeuten. Mit der gegenwärtigen politischen Konstellation kann er nicht abgeschlossen werden (Der PiS-nahe Präsident Duda kann jedes Gesetz per Veto stoppen. Anm. d. Red).
Das Interview führten Natalie Steger und Roman Krysztofiak aus dem ZDF-Studio Warschau.
Quelle: dpa
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