Migrationsexperte Knaus: EU "in jeder Hinsicht gescheitert"

    Interview

    Experte zur Flüchtlingspolitik:Migration: EU "in jeder Hinsicht gescheitert"

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    Der Notstand auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa verdeutlicht die Probleme der EU-Migrationspolitik. Warum die Union bisher scheitert, erklärt Experte Gerald Knaus.

    Im Sommer haben EU und Tunesien ein Flüchtlingsabkommen nach dem Vorbild des Türkei-Deals ausgehandelt - dadurch sollen lebensgefährliche Fahrten über das Mittelmeer verringert werden. Dennoch kommen auf Lampedusa vor der italienischen Küste weiter täglich Tausende Flüchtlinge an. Warum die Migrationspolitik der Europäische Union bisher scheitert, erklärt Migrationsforscher Gerald Knaus im ZDF heute journal.
    Sehen Sie oben das ganze Interview im Video und lesen Sie es hier in Auszügen. Das sagt Gerald Knaus ...

    ... über die bisherigen Ergebnisse der EU-Migrationspolitik

    Die EU habe zwar einen Zehn-Punkte-Plan für ihre Migrationspolitik, doch auch in der Vergangenheit seien zahlreiche "Aktionspläne, Strategiepapiere und Rückführungsabkommen" entstanden, die laut Knaus allesamt nicht funktionierten.
    Das Ergebnis sei offensichtlich: "Wir haben in diesem Jahr viel mehr Menschen, die irregulär aus Afrika nach Italien kommen als in den letzten Jahren, vielleicht überhaupt ein Rekord. Wir haben Tausende Tote, auch wieder in diesem Jahr." Zudem sei die Zahl der Rückführungen nach Afrika gesunken. Das Dublin-System, das regeln soll, welcher EU-Staat für einen Asylantrag zuständig ist, sei "zusammengebrochen".

    Mit dem zynischen Deal in Libyen und in Tunesien werden auch noch Menschenrechte verletzt. In jeder Hinsicht ist die Europäische Union hier bis jetzt gescheitert.

    Gerald Knaus, Migrationsforscher

    ... zur geforderten europäischen Solidarität bei der Verteilung von Flüchtlingen

    Die Debatte um eine solidarische Verteilung von Geflüchteten innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten sei "sehr verwirrend", sagt Knaus. Dass Italien damit überfordert sei, "auf einer winzigen Insel ein paar Tausende Menschen unterzubringen", sei kein Zeichen dafür, dass das Land besonders viele Asylsuchende im Land habe.
    "Im letzten Jahr hatte Italien ungefähr 86.000 Asylanträge, Österreich hatte 110.000 (...). Im letzten Jahr hat Italien ungefähr 26.000 Menschen Schutz gewährt, Deutschland hat fünfmal mehr Menschen Schutz gewährt", sagt Knaus und fügt hinzu:

    Wenn man also von einer gerechten Verteilung reden würde in Europa, dann müsste man Menschen aus Österreich und Deutschland nach Italien schicken und nicht umgekehrt.

    Gerald Knaus, Migrationsforscher

    Knaus fordert daher: "Die Debatte um Solidarität muss ernsthaft geführt werden, mit richtigen Zahlen und nicht nur mit Schlagworten."

    ... zum Vorgehen der Bundesregierung

    Innerhalb der Regierungen müsse das Thema Migration "Chefsache" sein, sagt Knaus. Er hoffe daher, dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und auch der französische Präsident Emmanuel Macron bei der UN-Vollversammlung in New York Gespräche dazu führen.

    Denn es geht um das Fundament, auf dem Europa steht und um Tausende Menschenleben.

    Gerald Knaus, Migrationsforscher

    Der Beauftragte der deutschen Regierung sei im Innenministerium angesiedelt, doch es brauche die Kooperation aller Ministerien. Streit innerhalb der Ampel-Koalition habe es bisher allerdings verhindert, dass geeignete Abkommen mit Drittländern geschlossen worden seien. "Ich glaube, das ist auch eine Krise der Koalition, es ist sicher eine Krise der Europäischen Union."
    Durch eine mangelnde Ernsthaftigkeit der Regierungen in Europa, Probleme in der Migrationspolitik zu lösen und aufgrund von Bildern eines "Kontrollverlustes" profitierten Rechtsextremisten überall in der EU.

    ... zum Migrationsabkommen zwischen EU und Tunesien

    Auch bei den damaligen Verhandlungen zwischen der EU und Türkei habe es anfangs viele Versprechen gegeben. Das letztendliche Abkommen sei jedoch ein kurzes, präzises Papier gewesen, das die Zahl der in der EU Ankommenden auch tatsächlich gesenkt habe.
    Bei der Vereinbarung zwischen EU und Tunesien sei das anders: "Die Einigung mit Tunesien ist vage, lang, voller Versprechen, unkonkret und es ist überhaupt nicht klar, was Tunesien eigentlich machen sollte. Und es ist auch nicht klar, was die EU Tunesien wirklich verspricht", so Knaus. "Als Migrationsabkommen ist das nicht tauglich."

    ... über geplante Maßnahmen der italienischen Regierung im Mittelmeer

    Mit Blick auf die von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni geäußerten Pläne, die Marine des Landes einzusetzen, um Menschen in Nordafrika vom Ablegen mit dem Schiff abzuhalten, sagt Knaus: "Wenn Italien jetzt darüber nachdenkt, mit dem Militär Boote zurückzustoßen (...), dann wäre das ein Angriff auf das Fundament der europäischen Rechtsstaatlichkeit."
    Der ehemalige italienische Innenminister Matteo Salvini, dessen Partei Lega mitregiert, habe die EU und die Menschenrechtskonvention "immer zum Einsturz bringen" wollen. "So gesehen würde das passen. Aber für Europa, den Flüchtlingsschutz und die Rechtsstaatlichkeit wäre das der schwärzeste Tag überhaupt", sagt Knaus.
    Quelle: ZDF

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