Viele Einwohner verlassen Region:Angriffe auf Charkiw: Gehen oder bleiben?
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Luftangriffe auf Charkiw im Osten der Ukraine waren bislang selten - doch Russland nutzt offenbar Lücken in der Verteidigung. Das stellt die Bewohner vor schwere Entscheidungen.
Charkiw wurde in den vergangenen Wochen wieder verstärkt von russischen Truppen ins Visier genommen. Zuletzt stürzte der Fernsehturm nach einem Angriff ein.
Quelle: AP
Die 79-jährige Olha Faitschuk bekreuzigt sich, als sie ihre Wohnung verlässt. Der Hof ihres Hauses in der ukrainischen Ortschaft Lukianzi nördlich von Charkiw gleicht einem Trümmerfeld.
Seit einem russischen Luftangriff Ende März, bei dem zwei Menschen ums Leben kamen, ist hier nichts mehr, wie es einmal war. "Gott, vergib mir, dass ich meine Heimat verlasse. Segne mich auf meinem Weg", betet die alte Frau und dreht sich noch einmal um, bevor sie langsam zu einem Evakuierungsfahrzeug geht.
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200.000 Menschen haben keinen Strom
Bis zum 22. März waren Luftangriffe auf den Grenzort zur russischen Region Belgorod eher eine Seltenheit. Doch dann nutzte Russland offenbar Lücken in der Verteidigungsfähigkeit von Charkiw, um die 1,3 Millionen Einwohner der zweitgrößten ukrainischen Stadt anzugreifen und die Infrastruktur zu zerstören.
Nach Behördenangaben sind rund 200.000 Menschen jetzt gänzlich von der Elektrizitätsversorgung abgeschnitten, 50 Prozent der regionalen Bevölkerung sind von häufigen Stromausfällen betroffen. Analysten warnen, dass eine gezielte Sommeroffensive auf Charkiw bevorstehen könnte.
"Wir sind uns darüber im Klaren, dass der Feind die Verwundbarkeit der Stadt jeden Tag ausnutzt", sagt der Gouverneur der Region, Oleh Syniehubow, und unterstreicht die Notwendigkeit einer verstärkten Luftabwehr.
Quelle: ZDF
Luftabwehr muss schnell funktionieren
Die Kämpfe in Charkiw spiegeln ein weitergehendes Problem wider: Während die westlichen Verbündeten ihr Versprechen auf Militärhilfe für die Ukraine nur zögerlich einlösen, setzt Russland auf Eskalation in der Hoffnung, den ukrainischen Widerstand zu brechen.
Geschosse aus Belgorod können ihre Ziele im 30 Kilometer entfernten Charkiw binnen 30 Sekunden erreichen. In diesem kurzen Zeitraum muss auch die Luftabwehr funktionieren, wie Gouverneur Syniehubow erklärt.
Russland hat kürzlich jedoch 22 Raketen auf einmal abgeschossen, um die Abwehrchancen zu schwächen. So wurde auch das Kraftwerk CHP-5 getroffen, das bis dahin 50 Prozent der regionalen Elektrizität und 35 Prozent der städtischen Fernwärme lieferte.
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Wackelige Stromversorgung
Eine vollständige Reparatur des Generators und der Turbinen dürfte laut Manager Oleksandr Minkowitsch Jahre dauern, zumal die notwendigen Ersatzteile nur aus Russland bezogen werden könnten. Nur mit Unterstützung der westlichen Verbündeten könnte die Wiederherstellung der Energieversorgung bis zum Winter noch möglich werden, sagt Minkowitsch.
Zurzeit wird Strom aus Nachbarregionen nach Charkiw umgeleitet. Dies überlastet jedoch häufig das Netz, so dass es zu unvorhergesehen Ausfällen kommt.
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Viele Bewohner verlassen Heimatorte
Viele Ortschaften im Grenzgebiet zu Belgorod sind inzwischen weitgehend verlassen. Wie die 79-jährige Faitschuk aus Likuanzi hat sich auch Julia Schdanewitsch schweren Herzens zum Verlassen ihres Dorfes Lipzi entschlossen, wo am 10. April zwei Erwachsene und ein Kind getötet wurden.
In der Ortschaft Rubischne sind von 2.000 Einwohnern nur noch etwa 60 zurückgeblieben, darunter Olha Besborodowa, die sich aber nicht sicher ist, wie lange sie noch bleiben wird. "Es ist wirklich schwer hier", sagt sie.
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Einwohner von Charkiw trotzen den Angriffen
Über die Bedeutung der jüngsten Angriffe auf Charkiw gibt es in der Ukraine geteilte Ansichten. Für Präsident Wolodymyr Selenskyj steht fest, dass Russland die Region einnehmen will. Der Militärgeheimdienst spricht indessen von einer eher "psychologischen Offensive", mit der Panik ausgelöst werden solle. Auf jeden Fall aber werden am Stadtrand die Verteidigungsanlagen ausgebaut.
In der Innenstadt geht das Leben indessen weiter, allen Widrigkeiten zum Trotz. Cafés und Restaurants sind gut besucht. "Wir versuchen, irgendwie klarzukommen", sagt die 34-jährige Oleksandra Silkina. Entschlossen fügt sie hinzu: "Wir werden diese Stadt nicht verlassen. Das ist unsere Stadt."
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.