Parteitag der Grünen:Karlsruhe und die Sorge vor der Zukunft
von Patricia Wiedemeyer und Andreas Huppert
Größer war ein grüner Parteitag noch nie, länger auch nicht. Und das in turbulenten Zeiten. Eindrücke aus Karlsruhe.
Hier, wo alles begann, hier wo der Gründungsparteitag der Grünen vor 43 Jahren stattfand, hier, wo die Richter des Bundesverfassungsgerichts ein für
die Grünen möglicherweise verheerendes Urteil sprachen - hier findet der bisher größte und längste Parteitag der Grünen statt. Und es könnte einer der schwierigsten werden.
Zurück zu den Wurzeln der Grünen
Ausgerechnet Karlsruhe möchte man sagen. Steht die Stadt in der grünen Parteihistorie doch für den Aufbruch zu neuen politischen Ufern. Der Mix aus Öko- und Umweltaktivisten, aus Anti-Atom- und Friedensbewegten, ging nach dem Gründungsparteitag 1980 in einer landesweit wählbaren Partei auf.
Die Grünen zogen in die Parlamente ein, landauf, landab bis in den Bundestag. Sie wurden Regierungspartei und stellten Vizekanzler.
Projekte zu Bahnsanierung, Klimaschutz und Wirtschaft ungewiss
Doch inzwischen sind sie angekommen in der Realität. Nach zwei Jahren
Ampel, nach der Euphorie über die Regierungsbeteiligung im Bund, mit zwei Kriegen und zahlreichen Krisen, stellen sie fest, dass grüne Wünsche sich kaum erfüllen lassen.
Und da kommt wieder Karlsruhe ins Spiel. Nachdem das dort ansässige Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, dass 60 Milliarden Euro Corona-Kredite zu Unrecht umgewidmet wurden, fehlt das Geld für die grünen Herzensprojekte: für die Sanierung der
Bahn, für die Transformation der Wirtschaft, für den
Klimaschutz. Was davon jetzt noch umgesetzt werden kann, völlig offen.
Die Haushaltskrise der Ampel-Koalition zieht ihre Kreise. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung schwindet, an der Basis der Parteien rumort es.23.11.2023 | 1:53 min
Die Diskussion darüber soll gleich am ersten Abend stattfinden. Grünen Chef Nouripour und Wirtschaftsminister
Robert Habeck sind gesetzte Redner. Wie sie die Basis beruhigen wollen, überzeugen wollen, wieder mal Kompromisse zu machen, weitere Kröten zu schlucken? Das wird spannend.
Entscheidende Frage: Umbau oder Abbau?
Für die Grünen hat der klimafreundliche Umbau der Wirtschaft nach wie vor oberste Priorität. Wenn das nicht passiert, würden die Unternehmen abwandern, sei Deutschland auf Dauer global nicht mehr wettbewerbsfähig, heißt es von grünen Spitzenpolitikern immer wieder.
Umbau oder Abbau - das sei die entscheidende Frage. Da das Geld dafür jetzt fehlt, ist ein Umbau nur mit neuen Krediten möglich. Für die Grünen steht fest, dass
die Schuldenbremse dafür aufgehoben werden muss. Ein NoGo für den Koalitionspartner
FDP. Ein Thema, das in der Partei nicht wirklich umstritten ist, hier sind die Grünen geschlossen. Ebenso beim Thema Kürzung von Sozialleistungen. Diese Forderung der FDP lehnt die Basis strikt ab.
Debatten zum Streitthema Migration
Beim Thema
Migration dürfte es dagegen hitzige Debatten geben, hier liegen zahlreiche Änderungsanträge vor. Die Grüne Jugend fordert, dass die Grünen Regierungsmitglieder einer Verschärfung des Asylrechts nicht zustimmen dürfen. Das soll für Entscheidungen im Bund und in Europa gelten.
Außenpolitisch wird die Partei über die Situation im
Nahen Osten debattieren, ein Dringlichkeitsantrag des Vorstandes fordert mehr humanitäre Hilfe für die Bewohner des Gaza-Streifens und eine langfristige Waffenruhe.
Bei so vielen brisanten Themen wird die Wahl des Vorstands fast untergehen. Ricarda Lang und Omid Nouripour stellen sich zur Wiederwahl. Aktuell gibt es nur einen Gegenkandidaten für Nouripour, die Chancen einer Überraschung sind eher gering.
Wie stabil ist die Ampel?
Ausgerechnet in Karlsruhe geht es aber nicht nur um Personen und um Inhalte, um grüne Nischenprojekte, wie die Union es hämisch bezeichnet, sondern um die Zukunft der Ampel. Und damit um die Zukunft der Grünen in Regierungsverantwortung.
Der Ruf nach Neuwahlen ist deutlich hörbar, doch davon würde nach jetzigem Stand keiner der drei Ampelpartner profitieren. Vor allem in der FDP rumort es. Zahlreiche Mitglieder wollen raus aus der Koalition. Die Folge wäre dann möglicherweise eine Große Koalition.
Grünen haftet "Ruf einer Verbots- und Bevormundungspartei an"
Die
Beispiele Berlin und Hessen haben gezeigt, die Grünen müssen künftig um die Regierungsbeteiligung in Bund und Land bangen. Obwohl sie sich extrem kompromissbereit zeigen, haftet den Grünen ihr Ruf einer Verbots- und Bevormundungspartei an. Das misslungene
Heizungsgesetz wirkt nach, da kann der Vizekanzler Habeck noch so viele gute Reden zum Thema Israel halten.
Daher geht es um sehr viel: Wie stellt die Partei sich auf beim Thema Klimaschutz, beim Thema Migration. Für die Union sind sie derzeit keine Option mehr, Schwarz-Grün scheint in weiter Ferne, Rot-Grün hat keine Mehrheit, die Ampel steht möglicherweise kurz vor dem Aus.
Kein Grund zur Freude
Wie schafft es die grüne Partei, einen Kurs zu finden, der sie als Regierungspartner und für die Wähler noch attraktiv macht? Das ist die große Herausforderung hier in Karlsruhe. Der Parteitag ist länger als je zuvor. Die Vorsitzenden freuen sich auf dieses "Familientreffen", aber so wirklich Grund zur Freude hat derzeit eigentlich keiner.
Denn nach zwei Jahren Ampel ist die Ernüchterung groß, von der Anfangseuphorie ist nicht viel geblieben, der grüne Gestaltungswille wurde zum Teil von den Koalitionspartnern ausgebremst. Oder er scheiterte an Plänen, deren Finanzierung letztlich so nicht zulässig war, wie das in Karlsruhe ansässige Bundesverfassungsgericht bestätigte.