ÖPNV, Flughafenpersonal, GDL: Warum streiken so viele?

    Interview

    ÖPNV, Flughafenpersonal, GDL:Warum streiken gerade so viele?

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    Seit Beginn des Jahres vergeht kaum ein Tag ohne Streik: erst der Bahnstreik, nun das Flughafenpersonal und der ÖPNV. Ein Streikforscher erklärt, warum gerade so viele streiken.

    Banner mit der Aufschrift: "Wir streiken!"
    Schon wieder Streik: Viele Branchen sind mit Arbeitskämpfen ins neue Jahr gestartet.
    Quelle: Imago Images

    Lokführer, Ärzte, Bauern - viele Berufsgruppen haben in den vergangenen Wochen gestreikt und protestiert. Für Donnerstag hat Verdi das Sicherheitspersonal an Flughäfen zum Streik aufgerufen, am Freitag folgt der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV). Streikforscher Alexander Gallas erklärt, warum gerade so viele ihre Arbeit niederlegen - und ob wir uns in diesem Jahr auf noch mehr Streiks einstellen müssen.
    ZDFheute: Erst die Bauernproteste, dann der GDL-Streik und nun der ÖPNV und die Flughafen-Mitarbeiter: Warum streiken gerade so viele?
    Alexander Gallas: Ich glaube, da sind zwei Gründe sehr wichtig: Das eine sind die hohen Reallohnverluste durch die Inflation. Die Leute haben also wenig Geld in der Tasche und finden es schwierig, über die Runden zu kommen. Und zweitens haben wir einen Arbeitskräftemangel in vielen Branchen.
    Und in der Streikforschung gehen wir davon aus, dass in Situationen des Arbeitskräftemangels die Beschäftigten mit mehr Nachdruck ihre Forderungen stellen und auch streikbereiter sind - bereiter sind, ins Risiko zu gehen.

    Alexander Gallas
    Quelle: privat

    ... ist Politikwissenschaftler an der Universität Kassel. Er hat an der Lancaster University in Soziologie promoviert. Gallas beschäftigt sich mit den Themengebieten Arbeitskämpfe und Streiks, globale Arbeitsstudien sowie Staats- und Klassentheorie.

    ZDFheute: Was haben die aktuellen Streiks gemeinsam?
    Gallas: Ich würde sagen, dass es ähnliche Ursachen gibt: große Frustration über die Arbeitsbedingungen, hoher Arbeitsstress, hohe Arbeitsbelastung. Das sehen wir in ganz unterschiedlichen Bereichen. Das betrifft nicht nur die Bahn mit ihrem sehr anstrengenden Schichtdienst, sondern zum Beispiel auch die Pflege, die Kitas, die Schulen und natürlich auch den ÖPNV.
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    ZDFheute: Ist die Streikbereitschaft also gerade insgesamt höher?
    Gallas: Wir hatten eine sehr lange, sehr ruhige Phase, was das Streikgeschehen anbelangt. Es gab immer Streiks, aber in den Nullerjahren wurde recht wenig gestreikt. Und so ab dem Jahr 2015 hat sich das geändert, da gab es mehr Streikaktivitäten. Und es deutet sich schon an, dass wir jetzt im Jahr 2023 nochmal eine Intensivierung sehen.

    Also wir sehen seit ungefähr zehn Jahren, dass wir aus einer sehr ruhigen Phase rauskommen und die Auseinandersetzungen wieder stärker werden.

    Alexander Gallas, Streikforscher

    Insofern würde ich schon sagen, dass es sehr deutliche Anzeichen dafür gibt, dass das ein allgemeiner Trend ist.
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    ZDFheute: Müssen wir in diesem Jahr also mit noch mehr Streiks rechnen?
    Gallas: Ich denke schon, dass es auch noch in diesem Jahr größere Streiks geben wird. Es stehen auch ein paar große Tarifrunden an - in der Chemieindustrie, der Metallindustrie und gegen Ende des Jahres im Öffentlichen Dienst. Es gibt auch einen schon sehr lange anhaltenden Tarifkonflikt im Einzelhandel.

    Also es gibt schon Potenzial für weitere Streiks.

    Alexander Gallas, Streikforscher

    Es kommt auch ein bisschen darauf an, ob jetzt Bewegung reinkommt in die bisherigen Tarifrunden. Wenn das so ist, ist es vielleicht auch möglich für die Beschäftigten, Forderungen durchzusetzen, ohne dass sie zum Streikmittel greifen müssen.
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    ZDFheute: Könnte es auch zu einem Generalstreik kommen?
    Gallas: In Deutschland ist ein Generalstreik nach der herrschenden Rechtsauffassung nur erlaubt, um einen Angriff auf die Demokratie abzuwehren. Es wird also gesagt: Streik für politische Ziele ist problematisch, weil er über parlamentarische Entscheidungen hinweggeht und politische Entscheidungen erzwingen will.

    Ein Generalstreik ist ein politischer Protest in Form von Arbeitsniederlegung, Einstellung von Handel und Verkehr, Schließung der Geschäfte, dem sich große Teile der Bevölkerung anschließen. In Deutschland ist ein Generalstreik wegen der Rechtslage sehr unwahrscheinlich. Quellen: bpb, dpa

    Es gab immer gewerkschaftliche Stimmen, die das sehr kritisch gesehen haben. Die haben argumentiert, dass es wichtig wäre, ein politisches Streikrecht zu haben, weil es für die Seite der Arbeitgeber sehr viele Möglichkeiten gibt, politische Prozesse zu beeinflussen. Das ist für Beschäftigte nicht der Fall. Und insofern wurde das schon immer diskutiert.
    Wir hatten eine interessante Entwicklung im Frühjahr 2023: Da fand der sogenannte Mega-Streik statt, bei dem Verdi und EVG Streikaktionen aufeinander abgestimmt haben. Das waren formell zwei unterschiedliche Tarifrunden, aber sie haben gleichzeitig gestreikt, um so die Wirkung der Streikaktion zu potenzieren und den gesamten Verkehrsbereich lahmzulegen. Und ich könnte mir vorstellen, dass mehr zu diesen Mitteln gegriffen wird.
    Das Interview führte Jana Nieskes.

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