FAQ
Erschleichung von Leistungen:Sozialbetrug: Wie groß ist das Problem?
von Katja Belousova
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Die Sorge vor Missbrauch von Sozialleistungen wie dem Bürgergeld ist allgegenwärtig. Doch wie groß ist das Problem - und der finanzielle Schaden? Versuch einer Annäherung.
Viele Menschen in Deutschland sind auf Sozialleistungen der Jobcenter angewiesen. Doch wie häufig wird dabei betrogen?
Quelle: dpa
"Familien in Duisburg sollen Sozialleistungen erschlichen haben": Meldungen wie diese von Mitte August - häufig verbunden mit dem Schlagwort "Südosteuropa" - sorgen immer wieder für Unmut. Und sie finden Widerhall in der Politik, wenn vor "Sozialmissbrauch" oder "Sozialtourismus" gewarnt wird. Der Vorwurf: Die Sozialkassen werden geplündert - zulasten hart arbeitender Menschen.
Doch wie hoch ist dabei der finanzielle Schaden - etwa mit Blick auf das Streitthema Bürgergeld? Und was haben "Clans aus Südosteuropa" dabei für eine Rolle?
Welche Rolle haben Clans bei Sozialbetrug?
"Schätzungen zufolge werden zwei Drittel der Schwarzarbeit, auch des Sozialbetrugs, von Einheimischen, von Deutschen begangen, die zum Beispiel unberechtigt Kindergeld entziehen", sagt der emeritierte Ökonom Friedrich Schneider von der Uni in Linz. Er forscht seit Jahren zu Sozialbetrug in Österreich und Deutschland.
Ihm ist es wichtig, das Gesamtbild ins Verhältnis zu setzen: Natürlich gebe es in Deutschland und Österreich Betrug durch Banden aus Südosteuropa - das sei nicht zu unterschätzen. Doch die häufige Fokussierung auf eine Tätergruppe sei irreführend.
Was können Behörden unternehmen?
Trotzdem müssten die Behörden besser gegen solche Gruppen vorgehen, fordert Schneider. Clans, insbesondere aus Südosteuropa, würden häufig aus großen Familienverbänden heraus agieren. "Sie haben häufig auch Wurzeln in Deutschland oder Österreich, wo es nicht immer leicht ist, durchzublicken, wer wer ist", erklärt er.
"Da braucht es eindeutig bessere Erfassungsverfahren", fordert der Ökonom. "Aber auch bessere Übereinkommen mit diesen Ländern, dass ein Leistungsabgleich und ein Abgleich der Personalien stattfinden kann."
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Wie viele Fälle von Sozialbetrug gibt es?
Wie viele Menschen in Deutschland insgesamt Sozialbetrug begehen, ist dabei nicht einfach zu beziffern. Das zeigt etwa das Beispiel Bürgergeld: Auf Anfrage von ZDFheute teilt die Bundesagentur für Arbeit mit, dass ihr nur ein Teil der Daten zu Bürgergeld-Missbrauch zur Verfügung stünde.
In der Grundsicherung für Arbeitsuchende bekämpfen neben den 301 Jobcentern als "gemeinsame Einrichtungen" 104 Jobcenter als "zugelassene kommunale Träger" und die Behörden der Zollverwaltung Leistungsmissbrauch. Da der Bundesagentur für Arbeit lediglich die Bearbeitungsergebnisse der 301 "gemeinsame Einrichtungen" zur Verfügung stehen, bildet diese Jahresbilanz nur einen Teil des bundesweiten Leistungsmissbrauchs ab.
Quelle: Bundesagentur für Arbeit
Quelle: Bundesagentur für Arbeit
Leistungsmissbrauch liegt vor, wenn die nicht dem materiellen Recht entsprechenden Leistungen in einem vorwerfbaren Verhalten der leistungsbeziehenden Person begründet sind, weil diese z. B. bei der Antragstellung unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht oder wesentliche Änderungen der Verhältnisse nicht oder nicht rechtzeitig mitgeteilt hat.
Quelle: Bundesagentur für Arbeit
Quelle: Bundesagentur für Arbeit
Alle EU-Ausländer haben nach geltendem Recht für die Dauer ihres Arbeitsaufenthalts in Deutschland einen Anspruch auf Kindergeld - auch wenn der Nachwuchs in einem anderen Land lebt. Auch deutsche Kinder, die im EU-Ausland leben, haben solche Ansprüche.
Quelle: epd
Quelle: epd
Demnach wurden 2022 mit Blick auf die Grundsicherung für Arbeitssuchende - seit diesem Jahr Bürgergeld genannt - rund 119.000 Fälle von Leistungsmissbrauch oder Verdacht auf Leistungsmissbrauch dokumentiert.
Der Zoll ließ die ZDFheute-Anfrage zu seinen Zahlen zunächst unbeantwortet - reichte später aber seine Daten nach. Demnach gab es 2022 etwa 85.700 eingeleitete und knapp 86.700 erledigte Ermittlungsverfahren. Dabei betrachtet der Zoll nicht nur das Bürger-, sondern auch das Arbeitslosengeld.
Gemessen an der Gesamtzahl von mehr als fünf Millionen Bürgergeld-Berechtigten in Deutschland, ist der Anteil der (Verdachts-)Fälle und Verfahren bei Sozialbetrug damit vergleichsweise gering.
Wie hoch ist der Schaden durch Sozialbetrug?
Auch zum finanziellen Schaden, der durch Leistungsmissbrauch entsteht, gibt es nur vage Angaben. Die Bundesagentur benennt für 2022 einen nachgewiesenen Vermögensschaden von rund 272,5 Millionen Euro im Zusammenhang mit Sozialbetrug beim Bürgergeld. Der Zoll spricht von einer aufgedeckten Schadenssumme von mehr als 87,9 Millionen Euro mit Blick auf Arbeitslosen- und Bürgergeld.
Wie sind diese offiziellen Zahlen zu bewerten? "Diese Zahlen sind nicht schlecht - beziehen aber nicht die Dunkelziffer ein", erklärt Ökonom Friedrich Schneider und gibt zu bedenken, dass die Grenzen zwischen Sozialbetrug und Schwarzarbeit fließend seien: "Sozialbetrug beginnt auch schon dort, wo ich jemanden schwarz beschäftige für die Kranken- oder die Altenpflege der Eltern oder Großeltern."
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Im Vergleich zur Bundesagentur für Arbeit weitet Schneider daher den Begriff des Sozialmissbrauchs - und unterscheidet zwischen drei Kategorien:
- "Klassischer" Sozialbetrug etwa von Bürger- oder Kindergeld
- Steuer- und Sozialversicherungsbetrug wegen Schwarzarbeit
- Steuerhinterziehung
In seinen eigenen Berechnungen zeigt sich: Der finanzielle Schaden durch Steuerhinterziehung ist fast doppelt so groß wie durch Sozialbetrug - und die größten Probleme bereitet dabei die Schwarzarbeit.
Schaden durch Sozial- und Abgabenbetrug
ZDFheute Infografik
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Zum Vergleich: 2022 hatte Deutschland etwa 1,2 Billionen Euro für soziale Ausgaben zur Verfügung. Schneiders Schätzung von insgesamt 113 Milliarden Euro jährlichem Schaden durch Sozial- und Abgabenbetrug macht etwa neun Prozent dieses Budgets aus. Das ist vergleichsweise gering - und trotzdem ein enormer Betrag.
Wie sieht der Vergleich mit Steuerhinterziehung aus?
Sozialbetrug müsse natürlich bekämpft werden, sagt Ökonom Schneider. "Gleichzeitig lohnt es sich aber viel mehr Steuerhinterziehung zu bekämpfen, weil da steckt deutlich mehr Geld drin." In der öffentlichen Wahrnehmung sei es aber oft umgekehrt.
Der Grund sei, dass Sozialbetrug für viele Menschen greifbarer und leichter erklärbar sei. "Bei Steuerhinterziehung sind zum Beispiel gut 40 Prozent sogenannte Karussellgeschäfte - wo mit der Umsatzsteuer getrickst wird", erklärt er.
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Fazit
Klar ist: Sozialbetrug ist in Deutschland durchaus ein Problem mit milliardenschwerem Schaden. Doch die Definition dessen, was als Sozialbetrug gilt, ist fließend - und das finanzielle Ausmaß durch Steuerhinterziehung und Schwarzgeld deutlich größer als durch klassischen Leistungsmissbrauch. Auch der Fokus auf Ausländer ist irreführend.
Es lohnt sich, bei der nächsten Meldung zu Sozialbetrug also - wie so oft - das Gesamtbild nicht aus den Augen zu verlieren.