Sozialhilfe: Die falschen Klischees rund ums Bürgergeld
FAQ
Diskussion um Sozialhilfe:Die falschen Klischees rund ums Bürgergeld
von Katja Belousova
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Das Bürgergeld ist mit Klischees und Zerrbildern aufgeladen. Dabei ist die Gruppe der Bezieher sehr unterschiedlich und nur eine Minderheit wirklich arbeitslos. Was Experten sagen.
Ein Mädchen steht vor einer Ausgabe der Tafel: Unter den Bürgergeldbeziehern finden sich unzählige Kinder.
Quelle: dpa
Im Zuge aktueller, aber auch vergangenener Haushaltsdebatte wird immer wieder über das Bürgergeld diskutiert. Vor allem von Seiten der Union und FDP wurde immer wieder gefordert, es zu kürzen. Ampel-Pläne von Ende 2023 sahen bereits 1,5 Milliarden Euro Einsparungen beim Bürgergeld vor.
Damit kommt die Bundesregierung auch einer Mehrheit der Deutschen entgegen. Im repräsentativen ARD-Deutschlandtrend von "infratest dimap" sprachen sich im Dezember zwei Drittel der Befragten für Einsparungen beim Bürgergeld aus.
Trotz der milliardenteuren Einigung im Haushalt investiere die Regierung deutlich mehr als vor Corona, so Bundesfinanzminister Lindner im ZDFspezial. 13.12.2023 | 4:01 min
Mehrheit will Armen Geld kürzen. Warum?
64 Prozent der Menschen in Deutschland waren also der Meinung, dass am unteren Ende der Gesellschaft gespart werden soll. Wie erklärt sich diese Mehrheit? "Bei vielen herrscht fälschlicherweise das Bild des faulen, auf dem Sofa liegenden, die Bierflasche in der Hand haltenden Nichtstuers vor, der nicht arbeiten will und auf unsere Kosten lebt", erklärt der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge im Gespräch mit ZDFheute.
Das Bürgergeld ist die Sozialleistung, die früher als Arbeitslosengeld II oder umgangssprachlich Hartz IV bezeichnet wurde. Es ist eine Grundsicherung für Arbeitssuchende, soll also Menschen den Lebensunterhalt sichern, die arbeiten können, deren Einkommen aber nicht zum Leben reicht. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales definiert das Bürgergeld als "Leistung des Sozialstaats zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums".
Seit Anfang 2024 erhalten Alleinstehende 563 Euro pro Monat.
Mit Partnern zusammenlebende Erwachsene erhalten 506 Euro.
Für Jugendliche im 15. Lebensjahr bis unter 18 Jahre fließen 471 Euro.
390 Euro erhalten Kinder vom Beginn des 7. bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres.
Für Kinder bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres fließen derzeit 357 Euro.
Arbeitslosengeld steht Menschen zu, die in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben und arbeitslos werden. Es wird maximal 24 Monate ausgezahlt - danach folgt das Bürgergeld. Anders als beim Bürgergeld ist die Höhe des Arbeitslosengelds abhängig vom vorherigen Einkommen.
Laut Bundesagentur für Arbeit erhalten Menschen Bürgergeld, wenn sie erwerbsfähig und leistungsberechtigt sind und damit mindestens folgende Bedingungen erfüllen:
Sie sind mindestens 15 Jahre alt und haben die Altersgrenze für Rente noch nicht erreicht.
Sie wohnen in Deutschland und haben hier ihren Lebensmittelpunkt.
Sie können mindestens drei Stunden pro Tag arbeiten.
Sie oder Mitglieder ihrer Bedarfsgemeinschaft sind hilfebedürftig.
Hilfebedürftig bedeutet, dass das Einkommen der Bedarfsgemeinschaft unter dem Existenzminimum liegt und sie den Lebensunterhalt nicht ausreichend aus eigenen Mitteln bestreiten können. Erwerbsfähigbedeutet, dass keine Krankheit oder Behinderung sie hindert, eine Arbeit aufzunehmen. Auch wer nicht erwerbsfähig ist, kann Bürgergeld erhalten, wenn die Person mit einer erwerbsfähigen und leistungsberechtigten Person in einer Bedarfsgemeinschaft lebt.
Asylbewerber*innen und Geduldete bekommen in der ersten 18 Monaten ihres Aufenthalts in Deutschland kein Bürgergeld, sondern Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Erst nach anderthalb Jahren steht ihnen Bürgergeld zu. Laut neuem Asylbeschluss soll sich das aber ändern: Künftig sollen sie erst nach 36 Monaten Anspruch auf Bürgergeld haben.
Eine Ausnahme wurde für Menschen aus der Ukraine getroffen, die vor Russlands Krieg geflüchtet sind: Sie zählen nicht als Asylbewerber und haben nach der Flucht Anspruch auf eine Grundsicherung - also auch das Bürgergeld.
Was verraten die offiziellen Bürgergeld-Zahlen?
Dabei zeigen die Bürgergeld-Zahlen der Bundesagentur für Arbeit: von den etwa 5,5 Millionen Leistungsberechtigten sind
etwa 30 Prozent minderjährig - die große Mehrheit davon unter 15 und damit nicht erwerbsfähig.
mehr als eine halbe Million Alleinerziehende - 93 Prozent davon Frauen.
etwa 800.000 sogenannte "Aufstocker" - also Menschen, die arbeiten, deren Lohn aber nicht für ein Existenzminimum ausreicht.
Insgesamt zählt die Bundesagentur
1,7 Millionen Menschen, die Bürgergeld beziehen und als arbeitslos gelten. Etwa zwei Drittel von ihnen haben keinen formalen Berufsabschluss - sind auf dem Arbeitsmarkt also per se schwer zu vermitteln.
knapp eine Viertelmillion Menschen, die seit mindestens vier Jahren arbeitslos sind.
Armutsforscher Christoph Butterwegge macht die SPD mitverantwortlich für Altersarmut vieler Menschen in Deutschland. Hartz IV und die Agenda 2010 hätten zu dem Problem beigetragen.19.02.2023 | 0:31 min
"Faule" Langzeitarbeitslose - was ist an dem Klischee dran?
Doch auch Langzeitarbeitslose als "faul" abzustempeln, greife Butterwegge zufolge zu kurz.
"Es gab schon immer Langzeitarbeitslose und dagegen kann man nur bedingt vorgehen. Und die Gruppe der Arbeitslosen, die sich einfach weigert, Erwerbsarbeit aufzunehmen, die ist nicht wahnsinnig groß und die ist auf keinen Fall so entscheidend für die deutsche Volkswirtschaft", ergänzt die Soziologin Mona Motakef von der TU Dortmund.
Was ist dran an Vorwürfen zu massenhaftem Sozialbetrug? Mehr dazu lesen Sie hier:
Die Sorge vor Missbrauch von Sozialleistungen wie dem Bürgergeld ist allgegenwärtig. Doch wie groß ist das Problem - und der finanzielle Schaden? Versuch einer Annäherung.
von Katja Belousova
FAQ
Warum gibt es solche Klischees?
Von einer "faulen" Mehrheit kann beim Bürgergeld keine Rede sein. Dafür ist die Gruppe der Beziehenden zu unterschiedlich. Doch warum hat sich dieses Bild verfestigt? Motakef führt das unter anderem auf einen "sozialpolitischen Leitbildwandel" zurück, der um die Jahrtausendwende stattfand.
Die Politik habe das Bild mitbefeuert.
Umgekehrt erscheine bei reichen Menschen ihr Reichtum vor allem als individuelle Leistung und Erfolg - und weniger als Ausdruck ihres sozialen Privilegs.
"Zum Beispiel ist damals auch Hartz IV vorbereitet worden, indem Gerhard Schröder der 'Bild'-Zeitung gesagt hat: 'Es ist gibt kein Recht auf Faulheit'. Was natürlich unterstellt, dass Menschen, die damals Sozialhilfe oder Arbeitslosenhilfe bezogen, ewigen Urlaub machten", ergänzt Butterwegge.
Angesichts zunehmender Krisen und Verunsicherung würden Bürgergeld-Stereotype weiter befeuert. "Diese Verunsicherung sorgt auch dafür, dass so ein gewisser Mechanismus, nach unten zu treten, entsteht", sagt Motakef.
Sie grenzen sich "nach unten" ab. Und dieser Mechanismus ist auch immer wieder zu beobachten, wenn es um ein anderes Streitthema beim Bürgergeld geht: dem Anteil der Ausländer.
Viele Ausländer beziehen Bürgergeld. Warum?
47 Prozent der Menschen, die Bürgergeld beziehen, sind keine deutschen Staatsbürger. Auch das sorgt bei vielen für Unmut. Dabei ist der Anteil aktuell auch deshalb so hoch, weil etwa ein Viertel von ihnen Ukrainer sind, die vor dem Krieg flohen. Viele von ihnen haben gute Qualifikationen, doch die Berufsanerkennung in Deutschland ist schwierig - das bekommen auch andere Ausländer in Deutschland zu spüren.
Warum ukrainische Geflüchtete auf dem deutschen Arbeitsmarkt häufig schwer Fuß fassen:
Mehr als eine Million Ukrainer sind seit dem Angriffskrieg Russlands gegen ihr Land nach Deutschland geflüchtet. Knapp die Hälfte von ihnen will laut einer Studie hierbleiben.18.07.2023 | 9:11 min
Davon abgesehen würden auch fremdenfeindliche Stereotype eine Rolle spielen, sagt Christoph Butterwegge.
"Zudem sind Menschen, die migrieren, jedenfalls wenn es Geflüchtete sind, häufig nicht so qualifiziert wie Einheimische, die in einem hoch entwickelten Industriestaat aufgewachsen sind", erklärt er.
Die schlechtere Qualifikation führe zu schlechter bezahlten Jobs, aber auch dazu, dass man Jobs schneller verliert, erklärt der Armutsforscher. "Der Punkt mit der Staatsbürgerschaft ist immer ein bisschen verzerrend, weil das Entscheidende ist jetzt gar nicht so sehr Ausländer oder Inländer, sondern die soziale Herkunft, die Deutschkenntnisse und ob Bildungstitel vorhanden sind, und falls ja, ob sie anerkannt werden", fasst Mona Motakef zusammen.