Wo leben die Palästinenser - und unter welchen Bedingungen?
Interview
Volk ohne eigenen Staat:Wo leben die Palästinenser?
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Die UN haben den 29. November zum Tag der Solidarität mit dem palästinensischen Volk erklärt. Wo und unter welchen Bedingungen leben die geschätzt etwa 14 Millionen Menschen?
Tage des Zorns, Tage der Tränen: Doku zur Lage in Nahost09.11.2023 | 43:24 min
ZDFheute: Durch den brutalen Terrorangriff der Hamas und den Gaza-Krieg ist der Nahost-Konflikt wieder in den Fokus der Weltöffentlichkeit gerückt. Ein Problem besteht seit Jahrzehnten: Die Palästinenser haben keinen eigenen Staat. Wo leben sie stattdessen?
Jan Busse: Insgesamt gibt es heutzutage ungefähr 14,5 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser: In den besetzten Gebieten leben insgesamt circa 5,5 Millionen, 2,2 Millionen davon im Gazastreifen und 3,3 Millionen im Westjordanland.
Israel und die besetzten Gebiete
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In Israel selbst leben ungefähr 1,7 Millionen Palästinenser, die über die israelische Staatsbürgerschaft verfügen. Circa 370.000 leben im von Israel völkerrechtswidrig annektierten Ostjerusalem. Das Besondere am Status dieser Menschen ist, dass sie nicht wie andere Palästinenser, die im israelischen Kernland leben, eine israelische Staatsbürgerschaft haben, sondern nur einen Duldungsstatus und eine Aufenthaltsgenehmigung für Ostjerusalem. Das heißt, sie haben keinerlei Staatsbürgerschaft. Deshalb müssen sie fortwährend dokumentieren, dass ihr Lebensmittelpunkt tatsächlich in Ostjerusalem liegt. Wenn ihnen das nicht gelingt, droht ihnen die Deportation, meist ins angrenzende Westjordanland.
Quelle: Unibw M / Siebold
... ist Nahost-Experte und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Politik und Konfliktforschung an der Universität der Bundeswehr in München.
ZDFheute: Unter welchen Bedingungen leben die Palästinenser in den besetzten Gebieten?
Busse: Die Lebensbedingungen im Gazastreifen und im Westjordanland unterscheiden sich sehr stark voneinander. Die Menschen im Gazastreifen leiden bereits seit 2006 unter den Folgen einer durch Israel verhängten Abriegelung, durch die nur in begrenztem Maße Güter oder Menschen in den Gazastreifen hinein oder von dort heraus gelangen können. Aufgrund dessen war die humanitäre Situation dort auch schon vor dem aktuellen Krieg desolat.
Im Westjordanland ist der Alltag der Palästinenser durch die Präsenz der israelischen Besatzung und der wachsenden Siedlerbevölkerung gekennzeichnet. Ihre Bewegungsfreiheit ist stark eingeschränkt, und gerade seit dem 7. Oktober 2023 ist ein starker Anstieg von gewalttätigen Übergriffen militanter Siedler auf Palästinenser zu beobachten.
Unabhängig davon gibt es inzwischen eine Gemeinsamkeit: Sowohl die Hamas im Gazastreifen als auch die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland sind inzwischen autoritäre Regime, die mit Repression gegen ihre Bevölkerung vorgehen.
ZDFheute: Viele Palästinenser leben außerhalb Israels und der besetzten Gebiete. Wo genau?
Busse: Einige Millionen leben in den arabischen Staaten. Dann haben wir noch rund 800.000 bis eine Million Palästinenser im Rest der Welt: Die palästinensische Diaspora in Europa wird auf 300.000 Menschen geschätzt, die neben Deutschland vor allem in Skandinavien, Großbritannien, Spanien und Frankreich ansässig sind.
Viele Tausend Palästinenser leben in Berlin - sie kamen als Flüchtlinge aus Syrien oder dem Libanon. 03.11.2023 | 2:02 min
In den USA leben circa 150.000 bis 250.000, die größte palästinensische Community außerhalb des Nahen Ostens lebt jedoch in Chile. Das sind so 400.000 bis 500.000 Menschen.
ZDFheute: Welchen Status haben die Palästinenser im Nahen Osten?
Busse: Es gibt etwa 5,9 Millionen Palästinenser, die einen Flüchtlingsstatus haben, der vom UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) anerkannt ist. Das wurde nach dem ersten arabischen Krieg gegründet, der von 1948 bis 1949 dauerte. Damals sind 700.000 Menschen aus dem heutigen international anerkannten israelischen Staatsgebiet geflohen oder vertrieben worden.
Neben den Flüchtlingen im Westjordanland und im Gazastreifen gibt es in den Nachbarstaaten eine große Zahl von Flüchtlingen.
Palästinensische Flüchtlinge in Nahost
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Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) wurde nach dem arabisch-israelischen Krieg 1948 auf Beschluss der UN-Generalversammlung 1949 gegründet. Das Ziel: humanitäre Hilfe für die palästinensischen Geflüchteten in der Region (u. a. Sicherheit, Bildung, Gesundheit) - und deren Nachkommen. Deshalb ist die Zahl der beim UNRWA registrierten Flüchtlinge seit Gründung des Hilfswerks stark gestiegen. 1950 waren es rund 750.000, mittlerweile sind es rund sechs Millionen. Das Hilfswerk wird hauptsächlich durch freiwillige Beiträge von Staaten finanziert, vor allem von den USA und EU-Staaten. Es steht aber auch in der Kritik - mehr dazu im Video.
ZDFheute: Und unter welchen Bedingungen leben diese Menschen in den Nachbarstaaten?
Busse: In Jordanien sind die Rahmenbedingungen relativ gut. Auch da gibt es Flüchtlingslager, aber dort leben nur Menschen, die sich in finanzieller Not befinden. Das heißt, wenn es einen ökonomischen Aufstieg gibt, können sie diese Lager verlassen.
Ganz anders sieht es im Libanon aus. Die Menschen dort dürfen außerhalb der Flüchtlingslager kein Eigentum erwerben und ein großer Teil lebt immer noch in diesen Flüchtlingslagern. Es gibt gezielte Diskriminierung durch die libanesische Regierung: Die Ausübung bestimmter Berufe, viele davon mit Hochschulabschluss, wird den Palästinensern verwehrt. Das sorgt natürlich auch dafür, dass soziale Aufstiegsmöglichkeiten extrem beschränkt bleiben und Armut sehr weit verbreitet ist.
Die Menschen, die trotz des Bürgerkriegs ab 2011 in Syrien geblieben sind, hatten es teilweise extrem schwer: 280.000 der knapp 440.000 noch in Syrien befindlichen palästinensischen Flüchtlinge sind dort zu "internally displaced persons", also Binnenvertriebenen geworden. Vielfach können sie das Land nicht verlassen, weil Jordanien und der Libanon die Grenzen für palästinensische Flüchtlinge geschlossen haben.
Die Palästinenser in Israels Nachbarstaaten pochen weiterhin mehrheitlich darauf, dass sie ein völkerrechtlich verbrieftes Rückkehrrecht haben und beanspruchen auch, dass dieses realisiert werden soll.
Die Entstehung des Nahost-Konflikts
Bis Anfang des 19. Jahrhunderts leben Muslime und Juden im Osmanischen Reich weitgehend friedlich zusammen. Doch in Europa werden die Juden ausgegrenzt und verfolgt ...
Quelle:
ZDFheute: Die genaue Zahl der Menschen, die in den palästinensischen Gebieten leben, gilt als Politikum. Warum?
Busse: Tatsächlich ist das Thema Demografie sehr, sehr spannend, sowohl in Israel als auch in den Palästinensergebieten, weil sich dieser Konflikt ein Stück weit auch immer um die Frage dreht: Wer ist in der Mehrheit oder wer war in der Mehrheit? Das fing schon an mit dem UN-Teilungsplan Ende der 1940er Jahre.
Damals wurde eine Aufteilung in einen arabischen und einen jüdischen Staat vorgesehen, mit 56 Prozent des Territoriums für den jüdischen und 43 Prozent für den arabischen Staat. Allerdings hatte die arabische Bevölkerung eine Mehrheit von 70 Prozent gegenüber 30 Prozent jüdischer Bevölkerung.
Jetzt ist es so, dass Hochrechnungen stark dafür sprechen, dass seit Ende 2022 erstmals gleich viele Juden wie Araber in diesem Gebiet leben, etwa 7,1 Millionen jeweils, wenn man Israel, das Westjordanland und den Gazastreifen zusammennimmt.
Auch aus diesen demographischen Gesichtspunkten wäre eine Zwei-Staaten-Regelung also im israelischen Interesse. Auf pro-israelischer Seite gab es immer wieder Versuche, Zahlen der Palästinenser zu diskreditieren indem behauptet wurde, sie seien zu hoch. Das ist aber tatsächlich ein politisierter Versuch gewesen, das palästinensische Statistikbüro in Verruf zu bringen. Ausgerechnet das israelische Statistikbüro hat diese Zahlen dann unterstützt und erklärt, dass die Zählung auf einem extrem hohen Standard durchgeführt worden sei.
Das Interview führte Anne-Kathrin Dippel. Grafiken: Luisa Billmayer und Robert Meyer Redaktion: Kathrin Wolff
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