75 Jahre Menschenrechte: "Es braucht einen klaren Kompass"
Interview
75 Jahre Menschenrechte:"Es braucht einen klaren Kompass"
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Vor 75 Jahren wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Wie läuft die Umsetzung? Steckt das westliche Verständnis von Menschenrechten in einem Dilemma?
Vor 75 Jahren wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Wie ist der Stand der Dinge? (Symbolfoto)
Quelle: Imago
Unterdrückung, Verfolgung und Diskriminierung bestimmen auch 75 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte den Alltag vieler Menschen weltweit. Im ZDFheute-Interview spricht der Politikwissenschaftler Michael Krennerich über die Umsetzung und den Vorwurf westlicher Doppelstandards.
Das Wichtigste in Kürze:
Die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verabschiedeten Menschenrechte sind "living instruments" und nach wie vor zeitgemäß
Wer sich für Menschenrechte in anderen Ländern einsetzt, muss auch zu Hause die Menschenrechte sorgfältig achten, schützen und bestmöglich umsetzen
Eine menschenrechtsgeleitete deutsche und europäische Politik muss menschenrechtlich relevante Probleme innerhalb Deutschlands und Europas konsequent angehen
Doku: "UNANTASTBAR - Kampf um Menschenrechte" - Flüchtlingslager auf Lesbos.04.12.2018 | 7:07 min
ZDFheute: Am 10. Dezember 1948 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Inwiefern sind diese 75 Jahre später noch zeitgemäß?
Michael Krennerich: Menschenrechte sind nach wie vor sehr zeitgemäß. Zum einen, weil Menschen weltweit unter Unterdrückung, Verfolgung und Ausgrenzung leiden - nur, weil sie beispielsweise die Regierung kritisieren, bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen einfordern oder einer Minderheit angehören. Zum anderen, weil Menschenrechte 'living instruments' sind.
Das Diskriminierungsverbot schützt heute beispielsweise Homosexuelle, die auch in Deutschland lange Zeit kriminalisiert wurden.
Quelle: FAU
...ist Professor für Politikwissenschaft und Wissenschaftlicher Leiter des FAU Forschungszentrums Center for Human Rights der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
ZDFheute: Welche aktuellen Probleme und Herausforderungen drängen den Menschenrechtschutz?
Krennerich: Die Herausforderungen sind vielfältig: Terror und Kriege weltweit bringen unermessliches Leid über die Betroffenen und gehen mit schwersten Menschenrechts- und Kriegsverbrechen einher. Autokrat*innen schränken in vielen Ländern massiv die Handlungsräume der Zivilgesellschaft ein, indem sie regimekritische und emanzipatorische Gruppen diffamieren, schikanieren und verfolgen.
Hassreden, Propaganda und Desinformation überschwemmen uns geradezu und vergiften das friedliche Zusammenleben innerhalb und zwischen Gesellschaften. Hinzu kommt der Klimawandel, der weitreichende Folgen gerade auf die Menschenrechte auf Wohnen, Nahrung, Wasser und Gesundheit nach sich zieht. Die Liste ließe sich noch lange fortführen.
ZDFheute: Die Europäische Union beharrt einerseits gegenüber anderen Staaten immer wieder darauf, dass Menschenrechte weltweit eingehalten werden. Anderseits steht der europäische Umgang mit Geflüchteten an den EU-Außengrenzen und im Kontext von Deals mit Libyen, Marokko und Co. Wie lässt sich dieses Verständnis rechtfertigen?
Krennerich: Eine Klarstellung vorneweg: Es geht nicht darum, dass wir angeblich 'westliche' Menschenrechte in die Welt tragen. Die Menschenrechte sind universell, überall gibt es Menschen, die sich gegen offenkundiges Unrecht wehren. Diese gilt es solidarisch zu unterstützen - und zwar ohne sie zu bevormunden.
Außerhalb Europas werden wir nicht zuletzt daran gemessen, wie wir mit geflüchteten oder zugewanderten Menschen umgehen.
Krennerich: Doppelstandards ergeben sich dann, wenn anderweitige Interessen in Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft die eigenen menschenrechtlichen Ansprüche überlagern. Umso wichtiger ist es, einen klaren menschenrechtspolitischen Kompass zu haben - und diesen auch zu nutzen, wenn es zu Wert- und Interessenkonflikten kommt.
ZDFheute: Werden unsere Menschenrechtsambitionen nicht an dem Punkt obsolet, wenn wir EuropäerInnen diese selbst regelmäßig mit Füßen treten oder treten lassen?
Krennerich: Nein, sie sollten vielmehr Maßstab für das eigene politische Handeln im Inland und Ausland sein. Nicht unsere Ambitionen sind aufzugeben. Wir sollten stattdessen sicherstellen, dass wir nicht selbst Menschenrechte verletzen. Nur dann können wir uns glaubhaft für die Menschenrechte anderswo einsetzen und all jene Menschen unterstützen, die oft unter hohen Gefahren für ihre Rechte streiten - wie etwa all die mutigen Frauen im Iran.
ZDFheute: Wie könnte eine menschenrechtsgeleitete deutsche und europäische Politik konkret aussehen? Wo muss nachgearbeitet werden?
Krennerich: Sie muss menschenrechtlich relevante Probleme innerhalb Deutschlands und Europas konsequent angehen. Egal ob es sich hierbei um Hasskriminalität und rassistische Diskriminierung handelt, um geschlechtsspezifische Gewalt oder um Kinderarmut und Wohnungsnot, um nur einige Beispiele zu nennen.
Zugleich gilt es, den internationalen Menschenrechtsschutz zu stärken und Menschen, die sich in anderen Ländern für Menschenrechte einsetzen, in Wort und Tat zu unterstützen. Eine couragierte Menschenrechtspolitik wendet sich deutlich gegen Menschenrechtsverbrechen und stellt sich zugleich jenen Autokrat*innen und Populist*innen entgegen, die menschenrechtliche Standards abzuschaffen oder zu verwässern versuchen.