Lange war Gewalt gegen Menschen ein Tabu in der linken Szene. Die Gruppe um Lina E. war dazu bereit. Der Verfassungsschutz warnt vor einer neuen Generation junger Linksextremer.
Die Angeklagte Lina E. am Tag der Urteilsverkündung: Fünf Jahre und drei Monate Freiheitsstrafe für die 28-Jährige.
Quelle: dpa
Leipzig-Connewitz kommt auch heute - dem Sonntag nach "Tag X" - nicht zur Ruhe. Nach einer Nacht mit Krawallen soll es am Abend eine weitere Demo geben.
Am Samstag hatten Hunderte Linksautonome gegen ein Urteil protestiert, das sich gegen eine aus ihren Reihen richtet: Lina E. war am Mittwoch zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilt worden. Sie hatte mit anderen Jagd auf von ihr als Rechtsextremisten eingestufte Personen gemacht, diese dabei teils schwer verletzt. Ein Aussteiger aus der Gruppe hatte im Prozess gesagt, dass die Opfer zwar nicht getötet werden sollten, aber so schwer verletzt, dass sie künftig von rechtsextremem Handeln absähen.
Verfassungsschützer: Entwicklungen in linksextremer Szene besorgniserregend
Stephan Kramer, Chef des Thüringer Verfassungsschutzes, beobachtet besorgniserregende Entwicklungen in der Szene:
Sie seien nicht mehr mit der alten linksextremen Szene vergleichbar, in der prinzipiell jede und jeder mitmachen konnte, so Kramer.
Lina E.: "Märtyrerin in der Szene"
Lina E. erhielt in dem Prozess die höchste Strafe; die drei mitangeklagten Männer wurden zu deutlich geringeren Haftstrafen verurteilt. "Lina E.s brutale Übergriffe sind auch eine gewisse Form von Gleichberechtigung. Frauen wie sie stehen linksextremistischen und gewaltaffinen Männern in nichts nach", so Kramer. Er ergänzt:
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In Leipzig ist es auch in der Nacht zum Sonntag zu Krawallen gekommen. Für den Sonntagabend wurde erneut eine Demonstration verboten. Aktuelle Entwicklungen im Liveticker.
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Könnte Lina E. nun abtauchen?
Was viele verwunderte: Nach dem Urteil war Lina E. erst einmal auf freien Fuß gekommen - zuvor hatte sie zweieinhalb Jahre in U-Haft gesessen. Die Reststrafe muss sie antreten, wenn das Urteil rechtskräftig wird. Lina E.s Lebensgefährte ist jedoch abgetaucht und soll an Angriffen auf Rechtsextreme in Budapest beteiligt gewesen sein. Verfassungsschützer Kramer sagt deshalb:
Die Szene sei europaweit vernetzt, so Kramer. Lina E. und ihr Umfeld könnten sich vermutlich problemlos in anderen Ländern verstecken.
Wenn Linksextreme in den Untergrund gehen, mit Anschlägen aber weitermachen - liegt da ein Vergleich mit der Roten Armee Fraktion, der RAF, nahe?
"Deren Brutalität und konkrete Gewalt gegen den Staat und seine Repräsentanten sowie ihren Organisationsgrad - etwa mit Ausbildungscamps in Afrika - das sehen wir derzeit noch nicht in vergleichbarer Form", so Kramer. "Wir müssen trotzdem aufpassen, dass es nicht so weit kommt."
Wie konnte sich die Gruppe derart radikalisieren?
Dass sich eine Gruppe so weit radikalisieren konnte, führt Kramer auch auf ein Gefühl zurück. "Das Gefühl, dass nicht genug gegen Rechtsextremismus getan wurde und wird. Wir müssen uns als Staat große Sorgen machen, wenn Bürger das Gefühl haben, dass Selbstjustiz - die ich verurteile - nötig ist."
Dass Rechtsextreme vor Gericht oft glimpflich davon kommen, zeigt etwa ein Mammutprozess gegen die Thüringer Neonazi-Gruppe "Turonen". Er endete mit einem Deal zwischen Staatsanwaltschaft und Neonazis - sie kamen mit Bewährungsstrafen davon. Die Nebenklage bezeichnete das als Farce.
Sehen Sie die ZDF-Doku über einen Neonazi-Aussteiger, der in die Geschäfte der Turonen und der "braunen Mafia" verwickelt war:
Die künftige Rolle der Lina E.: unklar
Die Ausschreitungen in Leipzig zeigen, dass es in Deutschland einen harten Kern an gewaltbereiten Linksextremisten gibt - der Verfassungsschutz zählte 2021 rund 10.300 Personen.
Welche Rolle Lina E. in der Szene künftig einnehmen wird, hängt auch von ihrem weiteren Verhalten ab, so Verfassungsschützer Kramer: